Russland

Wie sich Moskaus Wirtschaft neu ausrichten kann

Der erste Schock weicht, der zweite kommt. Krieg und Sanktionen erfordern, dass Russlands Wirtschaft sich komplett neu ausrichten muss. Aber wie soll das gelingen?

Wie sich Moskaus Wirtschaft neu ausrichten kann

Von Eduard Steiner, Wien

Fürs Erste scheint Russlands Wirtschaft Krieg und Sanktionen besser wegzustecken als erwartet, doch an Schreckensszenarien mangelt es nicht. Der frühere Wirtschaftsminister und Top-Banker Herman Gref hält Russland langfristig für schwer angeschlagen, weil auf Länder, die Sanktionen verhängt haben, mehr als die Hälfte der Ex- und Importe entfielen. Oleg Wjugin, Wirtschaftsprofessor und bis vor kurzem Aufsichtsratschef der Moskauer Börse, sagte der Börsen-Zeitung, er möge sich gar nicht vorstellen, wohin es führe, wenn Russland weiter so viel an Waren und Technologie aus dem Westen nicht importieren dürfe. Und Experten sind weitgehend einig, dass die Folgen von Krieg und Sanktionen sukzessive eintreten und Russland gravierend treffen werden.

Was also kann Russland unternehmen? Wie kann sich die Wirtschaft neu ausrichten?

Roland Götz, Experte für russische Wirtschaft an der Freien Universität Berlin, beobachtet, dass sämtliche Modelle von Wirtschaftsforschungsinstituten „eine Hinwendung nach Osten, vor allem nach China“, vorsehen. „Und viele zielen darauf, sich aus dem Welthandel auszuklinken und auf den Binnenmarkt zu konzentrieren.“ Tatsächlich ist in Russland ständig von wirtschaftlicher Autarkie und Importsubstitution die Rede, nachdem der Import – unter anderem infolge des westlichen Exportverbots für Hightech, Maschinen und Luxusgüter – auf weniger als die Hälfte geschrumpft ist. Von einer Ausrichtung auf die BRICS-Schwellenländer mit einer größeren Präsenz chinesischer Autobauer und indischer Supermarktketten in Russland sprach kürzlich Kreml-Chef Wladimir Putin.

Probleme mit China

Alexander Schirow, Direktor des Instituts für volkswirtschaftliche Prognose an der Akademie der Wissenschaften und ein Verfechter der Entwicklung des Binnenmarktes, verweist im Gespräch mit der Börsen-Zeitung auf die Größe des Landes: Mit 145 Millionen Einwohnern sei die Nachfrage nach Wohnungen, Infra­struktur oder Energieressourcen riesig. „Der Außenhandel ist nicht mehr so wichtig wie früher. Weil wir mit den Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport ohnehin nur noch eingeschränkt im Ausland einkaufen können, brauchen wir auch den Export nicht zu erhöhen“, sagt er. „Das nötige Kapital für Investitionen können wir angesichts unserer geringen Verschuldung die nächsten zehn Jahre auch im Inland aufnehmen.“

Die Verschuldung – knapp 20% der Wirtschaftsleistung – ist gering. Was jedoch die Relevanz des Außenhandels betrifft, so gibt auch Schirow zu, dass Russland aufgrund des fehlenden Zugangs zu westlicher Technologie in seiner Entwicklung zu­rückbleiben werde. „China kann uns viel ersetzen, aber es ist selbst nicht so führend bei den Technologien wie der Westen.“ Einen Binnenmarkt mit Hilfe von China zu entwickeln sei ohnehin ein Widerspruch in sich, erklärt Andrey Movchan, russlandstämmiger Chef der Investmentgesellschaft Movchan’s Group in London: „Dort, wo sie können, werden die Chinesen den russischen Markt mit ihren eigenen Produkten schwemmen.“ Und wie schwer es ist, eine tragfähige Binnennachfrage in einem autoritären System zu entwickeln, zeige gerade China selbst.

China – und teils auch Indien – hat Russland zuletzt tatsächlich geholfen, indem es unter anderem mehr russisches Öl einkaufte. Und in dem Ausmaß, in dem sie westliche Sanktionen nicht verletzen, sind die Chinesen bereit, die Lücken zu füllen, die westliche Firmen hinterlassen. Allein: „Dass Russland sich einseitig China ausliefert, während China selbst ja in die Weltwirtschaft integriert bleibt, wird in Moskau bislang nicht thematisiert“, sagt Ökonom Götz. Dass Russland von China zum billigen Rohstofflieferanten degradiert werden könnte, auch nicht.

Kann Russland seine Abhängigkeit vom Rohstoffexport überwinden? Investmentbanker Movchan warnt vor unrealistischen Schlüssen: Die Nachfrage nach fossilen Energieträgern werde die nächsten zehn Jahre sicher hoch bleiben, weshalb sich auch die russische Wirtschaftsstruktur nicht wesentlich ändern werde. Aber Russlands Einnahmen aus dem Ölexport würden in zwei, drei Jahren zu fallen beginnen, weil die Technologie für neue, schwer zugängliche Förderstätten fehle und russisches Öl weiter mit Rabatten verkauft werden müsse, so Movchan.

Für Wirtschaftsprofessor Wjugin hat der Ölpreis schon seit der Krim-Annexion 2014 an Bedeutung verloren. „Entscheidend ist, dass Investitionskapital ins Land kommt, dann können sich alle Sektoren entwickeln.“ Grundsätzlich stimmt Movchan dem zwar zu: „Aber die Investitionen kommen nicht mehr, so wie die Technologie nicht kommt. Statt Rechtsstaat herrscht Korruption. Außerdem gehen Russland die Arbeitskräfte aus.“ Schätzungen zufolge würden allein dieses Jahr 500000 Fachkräfte, davon 100000 IT-Fachleute, das Land verlassen. Ohne Regime Change werde es keinen Strukturwandel geben, so Movchan, doch der sei unwahrscheinlich.

Mit der Abschottung vom Westen könnte Russland „ein großes Nordkorea“ werden, meint Experte Götz. Die Elite werde noch lange vom Rohstoffexport leben, sagt Movchan, der die Wirtschaft unter den jetzigen Bedingungen bis 2032 um 20% schrumpfen sieht: „Und auch die große Masse der Russen wird nicht hungern. Aber wenn sie bisher wenig hatten, haben sie künftig noch weniger.“

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