Wirtschaftskriminalität

Europäische Strafverfolger zeigen Zähne

Die Europäische Staatsanwaltschaft etabliert sich als schlagkräftige Strafverfolgungsbehörde für länderübergreifende Wirtschaftskriminalität. Sie bewährte sich zuletzt im größten Umsatzsteuerbetrug.

Europäische Strafverfolger zeigen Zähne

Von Patrick Späth und

Tim Bartels *)

Europaweiter Umsatzsteuerbetrug in Milliardenhöhe, Durchsetzung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland, Korruptionsskandal im Europaparlament: Ende vergangenen Jahres überschlugen sich die Meldungen zur Kriminalitätsbekämpfung auf europäischer Ebene. Welche Rolle kommt hierbei der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) zu? Und warum sollten sich Unternehmen im Rahmen ihrer Compliance-Bemühungen mit ihren Befugnissen befassen?

Als unabhängige Einrichtung der EU und weltweit erste supranationale Strafverfolgungsbehörde ermittelt die EUStA in 22 EU-Mitgliedstaaten. Lediglich Dänemark, Irland, Polen, Schweden und Ungarn wollten der EUStA kein Mandat erteilen.

Seit Beginn ihrer operativen Arbeit im Juni 2021 hat sich die EUStA als äußerst schlagkräftige Strafverfolgungsbehörde für länderübergreifende Wirtschaftskriminalität mit EU-Bezug etabliert. Bei ihr sind über eintausend Ermittlungsverfahren gegen Verdächtige anhängig, die dem EU-Haushalt einen Gesamtschaden von rund 14 Mrd. Euro zugefügt haben sollen.

Effektive Koordinierung

Egal, ob in Italien, Bulgarien, Deutschland oder einem anderen Mitgliedstaat der EUStA-Zone: Die EUStA koordiniert grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen be­sonders effizient und effektiv. Dies stellte sie eindrucksvoll unter Beweis, als sie im November 2022 Ergebnisse ihrer Arbeit im größten jemals in der EU ermittelten Umsatzsteuerbetrug vorstellte. An dem Betrugssystem, das auf dem Verkauf beliebter elektronischer Waren beruhte, sollen Hunderte Personen in über 30 Ländern beteiligt gewesen sein. Die Ermittlungen reichten von Portugal bis nach Asien. In 14 Ländern wurden unter Leitung der ­EU­StA mehr als 200 Durchsuchungen gleichzeitig durchgeführt. Der Gesamtschaden soll nach Schätzungen mehrere Milliarden Euro be­tragen.

Neben der EUStA gibt es auf EU-Ebene weitere Einrichtungen, die zur europaweiten Kriminalitätsbekämpfung beitragen, und mit denen die EUStA eng zusammenarbeitet. Hierzu zählen das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) sowie Europol. Eine supranationale Strafverfolgungskompetenz hat aber nur die EUStA.

An erster Stelle

Aktuell ist die EUStA ausschließlich zuständig für die Verfolgung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU bzw. des EU-Haushalts. Hierzu zählen insbesondere kriminelle Handlungen, mit denen zu Unrecht Subventionen oder Aufträge der EU erlangt werden, sowie die Bestechung von Bediensteten der EU oder eines Mitgliedstaats, sofern der EU-Haushalt durch die vorgeworfene Handlung Schaden nimmt. Eine Zuständigkeit besteht außerdem für Zolldelikte und Umsatzsteuerbetrugssysteme, da sich der EU-Haushalt ganz bzw. teilweise aus diesen Einnahmen speist.

Liegt der Verdacht einer solchen Straftat vor, wird die EUStA aktiv, wenn die kriminelle Handlung in mindestens einem Mitgliedstaat, von einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats oder von einem Beamten der EU begangen wurde.

Nimmt die EUStA die Ermittlungen auf, haben die nationalen Behörden eigene Untersuchungen im selben Fall zu unterlassen. Für Straftaten, die nicht in die Ermittlungsbefugnis der EUStA fallen, bleiben die nationalen Strafverfolgungsbehörden zuständig.

In Deutschland kann die EUStA zudem wegen einer Ordnungswidrigkeit gegen Unternehmen ermitteln. Voraussetzung ist, dass die Ordnungswidrigkeit untrennbar mit einer Straftat gegen den EU-Haushalt verbunden ist oder die EUStA bereits ein Ermittlungsverfahren gegen eine Leitungsperson des Unternehmens führt.

Die Zentrale der EUStA befindet sich in Luxemburg und wird geleitet von der Europäischen Generalstaatsanwältin Laura Kövesi. Sie beaufsichtigt die Ermittlungsarbeit von über 100 Delegierten Europäischen Staatsanwältinnen und Staatsanwälten. Diese führen die Ermittlungen nach dem nationalen Recht der Staaten der EUStA-Zone, beantragen Durchsuchungsbeschlüsse bei nationalen Richtern und klagen Beschuldigte vor nationalen Gerichten an. Formal sind sie zwar Staatsanwälte eines Mitgliedstaates, operieren aber unabhängig von ihren nationalen Herkunftsbehörden, da sie ausschließlich der Aufsicht der Zentrale in Luxemburg unterliegen. In Deutschland gibt es aktuell elf Delegierte Europäische Staatsanwälte mit Dienstsitzen in Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln und München.

Das digitale Case Management System der EUStA erlaubt es ihr, sehr große Datenmengen entgegenzunehmen, zu verarbeiten und auszuwerten. Der Zugriff auf internationale Netzwerke und der unbürokratische Austausch zwischen den Delegierten Europäischen Staatsanwälten über Landesgrenzen hinweg ermöglichen eine zügige Verfahrensführung ohne langwierige Rechtshilfe-Ersuchen. Dies vermeidet Doppelarbeit parallel ermittelnder nationaler Staatsanwaltschaften und bündelt Ermittlungskompetenzen.

Erweiterte Kompetenzen

Doch dies könnte erst der Anfang einer sich ausweitenden supranationalen europaweiten Verfolgung von Wirtschaftskriminalität sein. Im November 2022 beschlossen die EU-Mitgliedstaaten, die Liste der sogenannten EU-Straftaten zu erweitern. Neben Terrorismus, Menschenhandel und sexueller Ausbeutung von Frauen und Kindern stehen nun auch Verstöße gegen restriktive Maßnahmen der EU auf der Liste. Damit werden insbesondere Sanktionsverstöße in Bezug auf Russland zu Straftaten, an deren einheitlichen Bekämpfung den Mitgliedstaaten besonders gelegen ist und zu deren gemeinsamen Verfolgung sie sich verpflichten.

Im Zuge dieser Erweiterung des EU-Straftatenkatalogs forderten die Justizminister Deutschlands und Frankreichs, darüber hinaus die Zuständigkeit der EUStA auf die Verfolgung von Sanktionsverstößen auszuweiten. Mangels Bezuges zum EU-Haushalt ist die EUStA zur Verfolgung bislang nicht befugt. Dies könnte der Europäische Rat ändern: Er kann die Zuständigkeit der EUStA auf die Bekämpfung schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension ohne Bezug zum EU-Haushalt und folglich auf Sanktionsverstöße ausdehnen.

Diese Zuständigkeitserweiterung wäre von der EUStA-Zone anzuerkennen. Ob alle Mitgliedstaaten mit Ermittlungen einer suprana­tionalen Strafverfolgungsbehörde gegen ihre Unternehmen im Zusammenhang mit Wirtschaftssanktionen einverstanden wären, bleibt angesichts der wirtschaftspolitischen Tragweite einer derartigen Kompetenzübertragung auf die EUStA abzuwarten. Bei der Europäischen Kommission fand die Forderung der Justizminister offenbar bereits Gehör. Dort werde derzeit geprüft, welche Rolle die EUStA bei der Ermittlung und Verfolgung von Sanktionsverstößen spielen könnte, heißt es in einer offiziellen Mitteilung vom 23. Januar 2023.

Auswirkungen in der Praxis

Unternehmen sollten sich bereits jetzt darauf einstellen, dass in Fällen von Wirtschaftskriminalität nicht mehr nur nationale Staatsanwaltschaften ermitteln und Durchsuchungen von Geschäftsräumen durchführen können. Hat ein Unternehmen Hinweise auf strafbares Fehlverhalten, sollte vorausschauend geklärt werden, ob die Zuständigkeit der EUStA begründet sein könnte. Die Durchführung interner Ermittlungen und die Entscheidung, ob und auf welche Strafverfolgungsbehörden zugegangen werden sollte, sind diesen neuen Gegebenheiten anzupassen. Angesichts ihres bisherigen Erfolgs steht sogar zu erwarten, dass die EUStA zusätzliche Ermittlungsbefugnisse erhalten wird.

*) Patrick Späth ist Rechtsanwalt und Partner vonMorrison & Foerster in Berlin und verantwortet dort den Bereich Compliance und Interne Ermittlungen. Tim Bartels ist Rechtsanwalt in der Kanzlei im Bereich Compliance und Interne Ermittlungen und war als Staatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen in Berlin tätig.