Im InterviewSiegfried Russwurm

„Das ist alles andere als ein großer Wurf für die Zukunft“

BDI-Präsident Siegfried Russwurm geht mit der Politik der Ampel hart ins Gericht: Es fehlten „Klarheit und Verlässlichkeit langer Linien“, sagt er und sieht auch den Kompromiss zum Haushalt äußerst kritisch. Abwanderungsdruck nimmt Russwurm in der energieintensiven Industrie wahr.

„Das ist alles andere als ein großer Wurf für die Zukunft“

Im Interview: Siegfried Russwurm

„Alles andere als ein großer Wurf für die Zukunft“

Herr Prof. Russwurm, die Probleme des Standortes Deutschland sind ja bekannt: Bürokratie, Fachkräftemangel, hohe Energiepreise. Neu dazugekommen ist aber, dass die Politik weniger Geld für Standortpolitik und die Förderung der Transformation zur Verfügung hat. Wie bewerten Sie den Umgang der Bundesregierung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse und den vereinbarten Kompromiss zum Haushalt 2024?

Ich war einigermaßen überrascht, dass die Bundesregierung offenbar nicht auf dieses Urteil vorbereitet war. In einem Unternehmen hätte man auch ein Worst-Case-Szenario mit im Blick gehabt. Dann ist es nach vier Wochen zu einem Klein-Klein verschiedenster Maßnahmen gekommen. Das ist alles andere als ein großer Wurf für die Zukunft und sicherlich keine kraftvolle Antwort auf die Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts, sondern lediglich der Versuch der Ampel-Koalition, das Jahr 2024 irgendwie finanzpolitisch zu bewältigen.

Aber muss man der Regierung nicht zugutehalten, dass sie einige grundsätzlich richtige Wege einschlägt? Zum Beispiel, wenn die Plastikabgabe künftig nicht mehr aus dem Bundeshaushalt, sondern von den Verursachern bezahlt wird.

Bei der Plastikabgabe ist ja noch völlig unklar, wie und von wem sie künftig eingetrieben werden soll. Und es steht zu befürchten, dass schon wieder ein neues Bürokratiemonster auf die Unternehmen zukommt.

Dann nehmen wir den CO2-Preis, der ein stärkeres Gewicht als Lenkungsinstrument erhält.

Schauen wir einmal auf das Beispiel Güterverkehr auf der Straße: Der wird nun zum zweiten Mal in kurzer Zeit gelenkt: erst am 1. Dezember mit einer deutlichen Erhöhung der Maut und nun noch einmal über den CO2-Preis, der den Diesel verteuert. Nur: Dort, wo hingelenkt werden soll, ist zurzeit noch gar keine Alternative verfügbar. Lkw mit Elektromotor kommen erst nach und nach in den Markt, und die Infrastruktur für Lastkraftwagen mit Elektroantrieb ist auch noch nicht vorhanden. Die Bahn hat keine freien Kapazitäten, und das lässt sich erst mit der Generalsanierung Schritt für Schritt ändern. Damit wird das Argument der Lenkungswirkung schal. De facto ist das Anheben des CO2-Preises zunächst nichts anderes als eine Steuererhöhung.

Auch die Strompreise werden durch die Haushaltsentscheidungen der Koalition steigen. Wie beurteilen Sie diesen Aspekt?

Wie funktioniert üblicherweise die Echternacher Springprozession? Man macht zwei Schritte vor und dann wieder einen zurück. Hier macht es die Bundesregierung genau umgekehrt und geht einen Schritt vor, dann aber zwei wieder zurück. Nach monatelangen Diskussionen um den Industriestrompreis hatte die Koalition zunächst Entlastungen für das produzierende Gewerbe beschlossen über eine Senkung der Stromsteuer in der Größenordnung von 1,5 Cent je Kilowattstunde. Und jetzt wird die Unterstützung für die Netzentgelte wieder gestrichen, und die Übertragungsnetzentgelte steigen damit 2024 um mehr als 3 Cent. Wer wundert sich noch, wenn bei solchen Entscheidungen zunehmend Zweifel an der Verlässlichkeit der Politik aufkommen?

Wo hätten Sie denn stärker den Rotstift angesetzt?

Einsparungen sind in einer solchen Situation natürlich eine Tugend. Aber es gibt auch zwei andere Hebel, die von der Bundesregierung in ihrer neuen Haushaltsplanung für 2024 gar nicht berücksichtigt wurden. Zum einen die Frage der Effizienz. Heute haben wir bei der Verwirklichung politischer Ziele oft einen Absolutheitsanspruch. Wir wollen 100-Prozent-Lösungen erreichen, zum Beispiel bei der Dekarbonisierung – ungeachtet der Kosten und obwohl alle wissen, dass gerade die letzten 5 Prozent oft exorbitant teuer sind. Oder wir machen Dinge auf besonders teure Art und Weise, nur um Proteste ruhigzustellen.

Könnten Sie ein Beispiel dafür nennen?

Nehmen wir die Erdverkabelung beim Ausbau der Hochspannungsstromleitungen. Solche Lösungen sind um des lieben Friedens willen entschieden worden, obwohl sie um den Faktor 5, 6 oder 7 teurer sind als Freilandleitungen. Wir reden hier über zweistellige Milliardenbeträge, die im Zuge einer effizienteren Vorgehensweise vermeidbar wären.

Und was wäre der andere Hebel?

Maßnahmen, um das Wirtschaftswachstum anzuregen und dann auf diesem Weg ein höheres Steueraufkommen zu generieren. Seit Jahren dringen wir schon auf Schritte, die kein Geld kosten, aber Chancen eröffnen. Die Politik kommt zum Beispiel nicht voran mit den Außenhandelsabkommen: Die Gespräche mit Australien sind gescheitert. Das Mercosur-Abkommen wird immer wieder verschoben. Und ein Indonesien-Abkommen ist nicht in Sicht. Ich könnte noch mehr aufzählen. Dabei würden mit neuen Handelsabkommen für die deutsche Industrie auch weitere Exportmöglichkeiten geschaffen, aus denen zusätzliches Steueraufkommen generiert würde.

Handelspolitik ist ja Sache der EU-Kommission und nicht der Bundesregierung.

Entschuldigung, aber wie kommen denn Entscheidungen in Brüssel zustande? Wir dürfen nicht so tun, als ob das Raumschiff Brüssel völlig unabhängig vom politischen Geschehen im größten Mitgliedsland der Europäischen Union unterwegs wäre. Da können wir die Handelnden in Berlin nicht außen vor lassen. Sie müssen sich schon mit den Regierungen der anderen EU-Mitgliedstaaten und den Brüsseler Institutionen darüber auseinandersetzen, ob denn die aktuellen Prioritäten in der Handelspolitik richtig sind. Zum Beispiel, ob es gerechtfertigt ist, wegen 2 Prozent des Rindfleischaufkommens in Europa ein komplettes Handelsabkommen mit Australien scheitern zu lassen. Andere Regierungen sind weit weniger scheu, ihren Einfluss innerhalb der EU geltend zu machen.

Wachstum kann man natürlich auch durch eine Unternehmenssteuerreform fördern. Die Frage ist natürlich, ob sich die Bundesregierung eine solche Steuerreform in der derzeitigen Haushaltslage überhaupt noch leisten kann. Nicht ohne Grund haben die Bundesländer ja schon das Wachstumschancengesetz vorerst gestoppt.

Das halte ich für eine sehr kurzsichtige Reaktion, auch wenn ich sie emotional verstehen kann. Es gibt gute Beispiele innerhalb der EU dafür, dass eine wachstumsorientierte Steuerpolitik erfolgreich sein kann und dann auch zu mehr Staatseinnahmen führt – Frankreich könnte man nennen oder auch Polen. Steuerliche Investitionsanreize und wettbewerbsfähige Unternehmenssteuern sind wirkungsvoller als eine Steuererhöhung. Deutschland ist ein Hochsteuerland. Und spätestens bei dem Thema Export müssen wir über globale Wettbewerbsfähigkeit reden. Da macht jeder Punkt Steuerdifferenz für die Unternehmen einen Unterschied. Eine 8 Prozentpunkte höhere Steuerbelastung in Deutschland im Vergleich zum EU-Durchschnitt ist schon ein erheblicher Standortnachteil.

Der Bundeswirtschaftsminister möchte den Standort Deutschland auch durch die Ansiedelung neuer Chipfabriken stärken, für die viele Milliarden Euro an Subventionen fließen sollen. Daran hat auch der Sparkompromiss für den Haushalt 2024 nichts geändert. Halten Sie das für richtig?

Das ist eine schwierige Diskussion. Ich verstehe kritische Stimmen. Aber ganz sicher wäre es verfehlt, die Ansiedlung von Halbleiterfabriken als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu sehen und dann Subventionen pro Arbeitsplatz zu thematisieren. Es geht um die Frage, ob diese Technologie in Deutschland eine Basis haben soll. Ich halte das für ein wichtiges Ziel, das zu erreichen aber leider teuer erkauft werden muss. Das widerstrebt mir als überzeugter Marktwirtschaftler auch. Aber es sind leider die Usancen in dieser Industrie. Ohne Subventionen wird es diese Technologie nicht in Deutschland geben, insbesondere nicht die der hoch miniaturisierten Halbleiter.

Wäre das so schlimm für den Standort Deutschland?

Die Frage kann man sich stellen. Aber wir müssen uns ehrlich machen und entscheiden, über welche Technologien wir im eigenen Land verfügen wollen, die Debatte um strategische Souveränität führen und festlegen, welchen Preis wir bereit sind zu bezahlen.

Das Urteil des Verfassungsgerichts hat ja auch eine breite Debatte über die Zukunft der Schuldenbremse ausgelöst. Einige plädieren für Reformen, einige für die strikte Einhaltung der heutigen Regeln, einige auch für die völlige Abschaffung. Wo ordnen Sie sich hier ein?

Die Schuldenbremse, so wie sie heute formuliert ist, muss nicht aus jeder Perspektive der intelligenteste Rahmen sein, der vorstellbar ist. Aber eine Verschuldung, als gäbe es kein Morgen, kann nicht die Alternative für dieses Land sein. Strukturell muss man festhalten: Die Schuldenbremse ist Teil unserer Verfassung. Und das hat für mich den positiven Effekt, dass jede Veränderung heute einen breiten Konsens der demokratischen Parteien braucht, der uns derzeit an zu vielen Stellen fehlt. Das Streben nach einem nachhaltig soliden Haushalt halte ich für etwas grundsätzlich sehr Vernünftiges.

Aber kann man nicht trotzdem das heutige Korsett als zu eng ansehen?

Diese Diskussion gibt es ja. Man müsste dann aber sicherstellen, dass zusätzliche Mittel, zu denen ein Zugang eröffnet würde, wirklich nur für eindeutige Investitionen verwendet werden. Nicht jede Ausgabe ist eine Investition. Es geht um die Frage, welche Dinge in der Zukunft definitiv einen Nutzen haben.

Wenn Sie das abgelaufene Jahr noch einmal Revue passieren lassen – von den Querelen um das Heizungsgesetz über den andauernden Zoff in der Ampel bis hin zur Haushaltskrise. Wie groß ist der Wunsch in der Wirtschaft nach einem Politik- und vielleicht sogar einem Regierungswechsel? Wäre Deutschland heute mit einer unionsgeführten Bundesregierung besser dran?

Auch beim Blick auf die Union ist mir nicht immer klar, was sie substanziell anders machen würde. Unser Problem, das wir mit dem aktuellen Regierungshandeln haben, betrifft zum einen viele kurzfristige Regelungen. Es fehlen uns aber auch Klarheit und Verlässlichkeit langer Linien und sehr grundsätzliche Entscheidungen. Das höre ich aus vielen Unternehmen, und ich möchte dringend darauf hinwirken, den aktuellen Zustand zu überwinden. Das ist auch eine Frage der schon angesprochenen Effizienz. Zum Beispiel ist die Politik in den letzten Jahren immer mehr dazu übergegangen, Unternehmen zu verpflichten, ihr rechtschaffenes Handeln flächendeckend zu dokumentieren. Wenn wir wieder zu einer einfacheren und klaren Regulierung kämen, würde man massiv Bürokratie, Staatsausgaben und Kosten in den Unternehmen sparen und so zu erheblich höherer Effizienz zurückkommen.

Der Trend geht ja eher in die entgegengesetzte Richtung, wie die Einigung der EU-Gesetzgeber auf ein europäisches Lieferkettengesetz zeigt. Kann man schon sagen, wie groß der Mehraufwand für deutsche Unternehmen wird, wenn das Gesetz so umgesetzt wird wie im Trilog Mitte Dezember beschlossen?

Wir wissen ehrlich gesagt noch nicht einmal, wie hoch der Mehraufwand beim deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz sein wird, weil noch aussteht, wie die BAFA die ersten Berichte der Unternehmen beurteilen wird. Und ja, bei der geplanten europäischen Direktive sind Regelungen dabei, die noch weit darüber hinausgehen und nicht nur einen zusätzlichen bürokratischen Mehraufwand mit sich bringen, sondern auch Regelungen, deren Umsetzung ich schlichtweg für unmöglich halte.

Könnten Sie ein Beispiel dafür geben?

Im deutschen Gesetz bezieht sich die Verantwortung auf direkte Lieferanten. Diese Verantwortung wird in den europäischen Regeln nach hinten und nach vorne erweitert. Dabei können viele Hersteller doch gar nicht sagen, wo ihre Produkte am Ende verwendet werden, weil noch etliche Wertschöpfungsstufen und Distributionsunternehmen dazwischenliegen. Es ist zutiefst wirklichkeitsfremd, beispielsweise von Komponentenherstellern die vollständige Rück- und Weiterverfolgung von Wertschöpfungsketten vom Rohstoff bis zum Endnutzer zu verlangen. Und unser zweiter Kritikpunkt betrifft die zivilrechtliche Haftung auch für Verstöße außerhalb des eigenen Unternehmens und der direkten Vertragspartner. Ich weiß nicht, wie das handhabbar sein soll. Bisher konnte mir das auch noch keine Politikerin und kein Politiker erklären, weder in Brüssel noch in Berlin.

Das EU-Lieferkettengesetz könnte auch die Versuche konterkarieren, die europäische Wirtschaft stärker zu diversifizieren, oder? Viele Unternehmen dürften sich aus Märkten wieder zurückziehen, um Risiken zu vermeiden.

Absolut. Lieferanten aus relativ neuen, sich entwickelnden Märkten können die verlangten Garantien längst nicht immer geben. Die Grundannahme, dass europäische Unternehmen beeinflussen könnten, welche politischen Rahmenbedingungen es in anderen Ländern gibt, zeugt ganz grundsätzlich von einer realitätsfernen Hybris. Mich überzeugt das Argument nicht, es müssten nur genügend viele europäische Unternehmen in China Druck mit einer Forderung nach freien Gewerkschaften machen. Das würde chinesische Unternehmen dazu bringen, ihre eigene Regierung davon zu überzeugen, freie Gewerkschaften in China zuzulassen. Wie naiv kann man sein? Wieso sollten Unternehmen etwas schaffen, was Regierungen nicht schaffen? Unternehmen können sich nicht immer aussuchen, an wen sie verkaufen oder bei wem sie einkaufen. Mit vielen unserer Produkte stehen wir in einem globalen Wettbewerb, und in dem entscheiden klassischerweise die Käufer, wo und bei wem sie kaufen, und nicht die Verkäufer, wem sie ihre Produkte zuweisen.

Welche Auswirkungen wird das EU-Lieferkettengesetz denn auf den Standort Europa haben – mit Blick auf seine Sandwichposition zwischen den USA und China?

Das ist alles andere als standortfördernd. Im globalen Wettbewerb sind das einmal mehr Steine im Rucksack der europäischen Unternehmen. Auch wenn ich die Intention verstehe, die mit den Lieferketten-Regelungen einhergeht: Man muss die Realitäten im Welthandel anerkennen.

Kommen wir noch einmal kurz zurück nach Deutschland. Der Bundeswirtschaftsminister hat eine neue Industriestrategie vorgelegt, in der es ein sehr eindeutiges Plädoyer für die industriellen Wertschöpfungsketten am Standort Deutschland gibt, die in der Tiefe und Breite gesichert werden sollen. Der BDI müsste damit doch eigentlich sehr zufrieden sein.

Mit diesem Teil der Strategie sind wir es auch. Und ich fand es durchaus bemerkenswert, wie das formuliert worden ist. Aber das Ganze hat ein kleines und ein großes Handicap. Das kleine Handicap ist: Dies ist die Strategie des Bundeswirtschaftsministeriums und nicht die der ganzen Bundesregierung. Ganz ehrlich: Wir sind es leid, uns in Detailfragen immer wieder mit allen drei Koalitionären einzeln oder sogar mit Untergruppierungen innerhalb dieser drei Koalitionsparteien auseinandersetzen zu müssen. Relevant ist am Ende, was die Bundesregierung in Summe tut.

Und das große Handicap?

In der Situationsbeschreibung sind wir uns einig. Aber dann kommt es zu der Frage, welche Maßnahmen daraus folgen sollten. Und spätestens bei deren Umsetzung sehen wir leider nicht den Fortschritt, der dringend geboten wäre.

Es ist ja auch nicht unumstritten, die industriellen Wertschöpfungsketten und vor allem die Grundstoffindustrie mit aller Macht und viel Geld im Land halten zu wollen. Es gibt viele renommierte Ökonomen, die darauf hinweisen, dass zum Beispiel Deutschland immer einen Nachteil bei den Energiepreisen haben wird.

Für Entscheidungen in solchen Fragen ist es absolut notwendig, die Komplexität der Zusammenhänge vollständig zu überblicken und alle Konsequenzen einzubeziehen. Da geht es um mehr als nur schwarz oder weiß. Stahl beispielsweise als Commodity zu bezeichnen, ist naiv. Ein typischer deutscher Stahlhersteller hat eine vierstellige Anzahl von unterschiedlichen Produkten im Angebot. Wer sagt, Stahl ist Stahl und Stahl könne man auch irgendwo aus dem Ausland kaufen, der unterschätzt massiv, wie Spezialstähle ganz unterschiedlichster Art in die Wertschöpfungsnetzwerke in Deutschland integriert sind. Ein anderes Beispiel aus der Chemieindustrie: Wer glaubt denn ernsthaft, dass es noch Automatisierungstechnik oder -software für Chemieanlagen aus Deutschland geben wird, wenn die Chemieindustrie aufgrund der hohen Energiepreise abwandert? Das muss für deutsche Unternehmen kein Thema sein, aber für Unternehmen in Deutschland schon. Diese Differenzierung wird mir viel zu wenig gemacht. Wenn es heißt, den deutschen Unternehmen gehe es doch gut, dann kann man beim näheren Hinsehen oft feststellen, dass es ganz vielen dieser Unternehmen gut geht, weil sie international tätig und dort sehr erfolgreich sind, aber ihre Gewinne überhaupt nicht in Deutschland erwirtschaften.

Sie sagten kürzlich in einem Interview, wer von den Unternehmen könne, überlege gerade, aus Deutschland zu fliehen. Hat der Abwanderungs- und Verlagerungsdruck denn in der letzten Zeit noch einmal zugenommen?

Der Druck ist sicherlich dort am stärksten, wo die Rahmenbedingungen in Deutschland sich sofort und unmittelbar in der Ergebnisrechnung auswirken. Und damit sind wir bei den energieintensiven Industrien oder den Branchen, in denen der Energieverbrauch ein signifikanter Anteil der Kosten ist. Es gibt leider viele Unternehmen, die aufgrund der hohen Energiekosten hier im Inland für sich keine Perspektive mehr sehen. Wir leisten uns ein Energiesystem, das zu höheren Kosten führt als in nahezu allen anderen Industrieländern. Aber kein Energiesystem ist gottgegeben. Der Fatalismus – auch von manchen Ökonomen – ärgert mich, wonach das halt so sei in Deutschland und wonach wir uns an diesen Zustand gewöhnen müssten. Noch einmal: Das ist nicht gottgegeben. Hohe Energiepreise sind teils Resultat einer politisch gewollten Verknappung.

Die CDU hat in ihrem neuen Grundsatzprogramm eine Rückkehr zur Atomenergie befürwortet. Wäre das auch Ihr Plädoyer?

Wenn wir von Technologieoffenheit reden, dann sollten wir an einer Weiterentwicklung der Kernenergie auch arbeiten dürfen, was heute in Deutschland de facto ein No-Go ist. Zweiter Punkt ist die Frage nach einem gesellschaftlichen Konsens für Investitionen in solche Technologien. Erst dann würde es um Entscheidungen über konkrete Projekte gehen. Das hat zur Konsequenz, dass Kernenergie weder in der Kernspaltung noch in der Kernfusion in den nächsten zehn Jahren einen Beitrag zu unserer tatsächlichen Energieversorgung liefern wird. Davon zu unterscheiden ist etwas anderes: Die Energieerzeugung in Deutschland haben wir durch Abschalten der letzten Kernkraftwerke im Frühjahr 2023 nuklearfrei gemacht. Die Energieversorgung Deutschlands ist aber als Teil des europäischen Energiebinnenmarktes mitnichten frei von Kernkraft. Auch in Zukunft wird Atomstrom Teil unserer Stromversorgung sein. Denn wir werden ihn zur Schließung eigener Versorgungslücken beziehungsweise im Rahmen des europäischen Stromhandels weiterhin in größeren Mengen aus den Nachbarländern kaufen, vor allem aus Frankreich und Tschechien.

Ist die Kraftwerksstrategie, die immer noch im Wirtschaftsministerium aussteht, das wichtigste Puzzlestück für die Energiewende, das aktuell noch fehlt?

Die Strategie ist sehr wichtig, weil ganz viele Fragen davon abhängen – zum Beispiel, wann wir aus der Kohleverstromung aussteigen können. Es wäre ja ein Treppenwitz der Geschichte, wenn das Land mit einer der ambitioniertesten Dekarbonisierungsstrategien am Ende vom Weiterbetrieb seiner Kohlekraftwerke abhängt, weil Alternativen dazu fehlen. Diese Alternativen sind heute immer noch nicht im Bau, weil es Stand heute noch kein Geschäftsmodell dafür gibt. Die möglichen Betreiber wissen nicht, wie sich diese Backup-Kraftwerke lohnen sollen, wenn sie im Jahr vielleicht nur 1.500 oder 2.000 Stunden laufen werden. Es fehlt an ganz grundlegenden Antworten. Und die Konsequenz ist, dass wir jedes Elektroauto weiterhin mit einem Strommix laden, der zu einem Teil aus Kohlestrom besteht. Dass wir jede Industrieanlage, die wir für teures Geld und eventuell auch mit hohen Subventionen von einem konventionellen auf einen elektrischen Betrieb umstellen, weiter anteilig mit Kohlestrom fahren.

Herr Russwurm, blicken wir noch kurz auf 2024. Im Juni stehen die Wahlen zum EU-Parlament auf der Agenda. Welche Bedeutung hat dieser Termin für die deutsche Industrie?

Es gibt eine ganze Reihe von Themen, die inzwischen europäisches Entscheidungsprivileg sind, nicht zuletzt die Handelspolitik. Die nationalen Regierungen sind hier zwar nicht aus der Verantwortung, aber Europa ist für die deutsche Wirtschaft eine extrem wichtige Instanz. Auch die Weiterentwicklung des Binnenmarktes hin zu einem echten europäischen Digitalmarkt, einem echten europäischen Finanzmarkt, ist für die Wirtschaft von hoher Bedeutung. Wir brauchen aus wirtschaftlicher Sicht mehr Europa und nicht weniger. Aber es ist auch geboten, dass die EU gut geführt wird. Die Wahlen sind schon in sechs Monaten. Ich würde mir entschlossenere Kampagnen der Politik für Europa und für diese Europawahlen wünschen.

Die Ampel-Koalition ist ja eigentlich mit großen Ambitionen in ihrer Europapolitik gestartet. Bisher konnte man davon aber irgendwie nicht so viel sehen. Oder schätzen Sie das anders ein?

Das ist leider tatsächlich so. Die häufigste Verhaltensweise Deutschlands in Brüssel ist inzwischen das German Vote. Drei Koalitionäre in Berlin können sich nicht einigen, und Deutschland enthält sich. Aus Perspektive der Wirtschaft ist das ein Unding. Das wirtschaftlich stärkste Land Europas bezieht keine Position, weil sich die Koalitionsparteien nicht entscheiden können. Was daran europafreundlich sein soll, konnte mir noch niemand erklären.

Im Anschluss stehen drei Landtagswahlen in Ostdeutschland an. Viele schauen auf diese Wahlen heute schon mit großer Sorge, insbesondere mit dem Blick auf den Höhenflug der AfD. Wie nehmen Sie das Stimmungsbild in Ihrem Verband beziehungsweise in den Unternehmen wahr, was diese Wahlen anbelangt?

Ich möchte ganz bewusst eine zweigeteilte Antwort geben. Aus rein wirtschaftlicher Perspektive ist Deutschland so sehr auf Offenheit angewiesen wie kaum ein anderes großes Land in der Welt. Unser Erfolg hängt vom Export und vom Handel ab. Aber unsere Zukunft hängt auch davon ab, dass wir exzellente Experten unterschiedlichster Art aus allen Ländern der Welt anziehen und nach Deutschland holen können. Jede Art von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, von Deutschtümelei, egal wie sie sich tarnt, ist wirtschaftlich Gift für dieses Land. Aber das ist nur die Hälfte der Antwort. Unternehmerinnen und Unternehmer treibt genauso wie viele andere Menschen in diesem Land das Menschen- und Gesellschaftsbild um, das die AfD vertritt. Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der Aussehen, Name oder der Pass der Eltern bestimmt, welche Rechte, welches Ansehen und welche Möglichkeiten man hat? Wollen wir in einem Land leben, in dem behinderte und nicht behinderte Kinder nicht mehr in die gleiche Schule gehen sollen, weil Inklusion verpönt ist? Auch wenn viele – und dazu gehören auch Unternehmerinnen und Unternehmer – sehr enttäuscht und teils massiv verärgert über die Arbeit und Ergebnisse der Ampel-Koalition sind, muss sich jede und jeder diese Fragen stellen, der in der Wahlkabine überlegt, wo sie oder er sein Kreuz macht. Meine Antwort ist klar: Die AfD spaltet unser Land und schadet ihm.

Ist die AfD ein Standortrisiko für Deutschland?

Absolut.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm geht mit der Politik der Ampel hart ins Gericht: Es fehlten "Klarheit und Verlässlichkeit langer Linien", sagt er und sieht auch den Kompromiss zum Haushalt äußerst kritisch. Abwanderungsdruck sieht Russwurm in der energieintensiven Industrie.

Das Interview führte Andreas Heitker.

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