Robert Lilja, Stefanie Berlinger

„60 IPO-Kandidaten auf dem Radar“

Trotz einiger Marktrisiken rechnen der Gründer und CEO der IPO-Beratung Lilja  Co. und seine deutsche Statthalterin 2022 mit einem Volumen von rund 10 Mrd. Euro bei Börsengängen hierzulande, großvolumige Spin-offs nicht einbezogen.

„60 IPO-Kandidaten auf dem Radar“

Heidi Rohde.

Herr Lilja, Frau Berlinger, die Performance einiger Börsenneulinge ließ in Deutschland 2021 zu wünschen übrig. Welche Erkenntnisse ziehen Sie als IPO-Berater daraus für Ihre Arbeit?

Lilja: 2021 war ein starkes IPO-Jahr, in dem das globale Emissionsvolumen bei knapp 500 Mrd. Euro lag und damit 80 % über Vorjahr. Von den 63 größten dieser Börsenneulinge, bei denen Aktien für mehr als 1 Mrd. Euro platziert wurden, notiert nur knapp die Hälfte über dem Emissionspreis, und im Durchschnitt, über alle diese Deals gerechnet, haben Investoren 2 % im Vergleich zum Emissionpreis verloren. Deutsche IPOs sind in globaler Perspektive Underperformer: hier haben die Anleger im Mittel 7 % verloren. Börsenkandidaten muss klar sein, dass der IPO-Markt nicht immer gleichermaßen aufnahmefähig ist. Wichtig ist, optimal vorbereitet zu sein, um ein sich bietendes Fenster nutzen zu können. Ein lückenhafter ESG-Bericht oder die Suche nach einem unabhängigen Boardmitglied wenige Monate vor einem geplanten IPO sind strikt zu vermeiden.

Worauf müssen Sie achten?

Berlinger: Unsere Aufgabe ist es, die Transaktionssicherheit zu erhöhen und die Bewertung zu optimieren. Wenn der Kurs bei zu vielen Neulingen auf Tauchstation geht, wird das die Investoren naturgemäß verschrecken. Es ist schließlich auch zu bedenken, dass Altaktionäre sich nach Ablauf der Lock-up-Periode von weiteren Aktien trennen können beziehungsweise die Unternehmen erneut Kapital aufnehmen wollen. Für uns als IPO-Berater heißt das: Wir müssen sicherstellen, dass die IPO Kandidaten bestmöglich vorbereitet sind, und auch manch einem von einem verfrühten Going Public abraten.

Waren die vorbörslichen Bewertungen – in den Spätphasenrunden bei manchen Start-ups – zu hoch?

Lilja: Es ist verständlich, wenn ein sehr stark wachsendes Unternehmen nach ein oder zwei Jahren seit der letzten Finanzierungsrunde eine höhere Bewertung im IPO erwartet, wenn dies mit einer realistischen Positionierung gegenüber Vergleichsunternehmen verbunden ist. Aber: Ja, unserer Meinung nach waren die vorbörslichen Bewertungen manchmal zu hoch. Wir haben ein Umfeld erlebt, in dem sehr viel Kapital auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten war, was zu Übertreibungen geführt hat (zum Beispiel Wework). Überdies hat der Markt vor dem Hintergrund der erwarteten Zinswende vor allem junge Technologieunternehmen abgestraft.

Welchen Trend sehen Sie für das IPO-Jahr 2022?

Berlinger: Wir gehen von einem konstruktiven, aber auch anspruchsvollem Marktumfeld aus. Generell dürften Investoren auch bei jungen Wachstumsunternehmen verstärkt ihren Fokus auf Profitabilität legen und verstehen wollen, wann und wie diese erreicht werden kann, wenn dies noch nicht der Fall ist. Wir rechnen auch damit, dass wir Firmen aus traditionellen Sektoren wie Indus­trie, Healthcare und Consumer sehen. Attraktiv werden Unternehmen sein, die Umweltthemen und andere ESG-Themen adressieren.

Welche Risiken gibt es?

Lilja: Wir rechnen mit mehr Volatilität, insbesondere aufgrund einer möglicherweise länger anhaltenden Inflation und der Wahrscheinlichkeit von mehreren Zinserhöhungen. Dieses Thema haben wir ja bereits in den ersten Wochen des neuen Jahres beobachtet. Aber auch geopolitische Risiken werden die Märkte weiterhin verunsichern. Dennoch können wir in Deutschland im Falle von gut vorbereiteten IPOs durchaus das Vorjahresvolumen erreichen. Für die nächsten drei Jahre haben wir 60 IPO-Kandidaten mit einem kumulierten Unternehmenswert von 180 Mrd. Euro auf dem Radar. Abzüglich Schulden und bereinigt um Abwanderungen et cetera können wir bei anfänglichen Free Floats von 25 bis maximal 50 % von einem jährlichen IPO-Volumen von mindestens 10 Mrd. Euro ausgehen. Große Spin-off-Kandidaten wie Porsche sind dabei nicht eingerechnet.

Weiterhin rüsten sich viele junge Tech-Unternehmen für ihr Debüt. Die Platzierung von Firmen aus diesem Sektor ist hierzulande traditionell schwierig. Ist da Besserung in Sicht?

Berlinger: In den letzten Jahren hat das Verständnis für Technologieunternehmen sowie deren Strategien und Finanzprofile in Deutschland klar zugenommen: Shop Apotheke, Delivery Hero, Teamviewer, About You, Auto1, Suse sind Beispiele. US-Anleger sind nach wie vor „meinungsbildend“. Deshalb wünschen sich auch Unternehmen, diese an Bord zu haben.

Hat das bei den Tech-Neulingen im vergangenen Jahr nicht gut geklappt?

Berlinger: Zu Jahresbeginn waren erkennbar viele Investoren getrieben von der Furcht, bei attraktiven Tech-IPOs nicht dabei zu sein, und sie waren deshalb bereit, eine höhere Bewertung zu akzeptieren. Im zweiten Quartal und nachdem Tech-IPOs in 2021 große Kursverluste in Kauf nehmen mussten (darunter Didi, Krafton, Paytm, Robinhood und Deliveroo), wurden die Investoren bei Tech-Assets vorsichtiger und haben teilweise erhebliche Bewertungsabschläge verlangt. In der zweiten Jahreshälfte gab es de facto keine Tech-IPOs mehr in Deutschland.

Welche Bedeutung haben Corner-stone-Investoren im IPO-Prozess?

Berlinger: Cornerstone-Investoren sind ein interessantes Konzept, aber keine Voraussetzung für einen erfolgreichen IPO-Prozess. Häufig ist zu beobachten, dass Cornerstone-Investoren dann kommen, wenn man sie eigentlich nicht braucht, aber eben dann fehlen, wenn sie wirklich einen Unterschied machen könnten. In 2021 haben wir auch in Deutschland in mehreren Transaktionen Cornerstone-Investoren gesehen. Etwa bei Vantage Towers, deren IPO von zwei auf Infrastruktur spezialisierten Fonds begleitet wurde. Große Institutionelle, die zu Jahresbeginn vielfach als Cornerstone-Investoren zur Verfügung standen, waren im Jahresverlauf zurückhaltender.

Welche Rollen spielen ESG-Kriterien für IPO-Kandidaten?

Lilja: Wer ESG nicht ernst nimmt, der soll am besten nicht an die Börse gehen. Wenn der nach eigenen Angaben weltgrößte Staatsfonds Norges sich zum Ziel setzt, Marktführer bei ESG-Investments zu werden, liegt auf der Hand, dass dies alle Unternehmen beachten müssen. Eine gute ESG-Story wird immer Einfluss auf die Bewertung haben, schon weil die Nachfrage von Fonds mit spezifischer ESG-Ausrichtung höher ist. Der Druck auf die Investoren selbst steigt: von ihren Mandanten sowie vom Gesetzgeber.

Zahlt sich ESG dann an der Börse auch tatsächlich aus?

Lilja: Eine professionelle ESG-Strategie gehört zum Gesamteindruck der Managementqualität. Laut einer Accenture-Studie haben Unternehmen mit einem hohen ESG-Score in den Jahren 2013 bis 2020 einen 2,6fach höheren Shareholder Return abgeworfen als die Peer-Gruppe mit einem vergleichsweise niedrigeren ESG-Score. Wir empfehlen IPO-Kandidaten, sich langfristig vorzubereiten. Idealerweise können sie schon vor Beginn eines IPO-Prozesses ein bis zwei ESG-Berichte vorweisen. Anders als noch vor drei Jahren gibt es heute bei jedem IPO eine ESG-Komponente, wo alle relevanten Kennziffern ermittelt werden. Vor allem achten Investoren darauf, dass die Managementvergütung klar an ESG-Ziele geknüpft ist. Dies soll im Idealfall 15 bis 25 % der Vergütungsstruktur ausmachen, und idealerweise ist die ESG-Komponente Teil der langfristigen Vergütung.

Zu einem anderen Punkt: Welche Perspektiven sehen Sie für Spacs? Bringen diese Sie als IPO-Berater in Bedrängnis?

Lilja: Im Rahmen eines Spac-Prozesses (Spac IPO und De-Spac) gibt es für uns etwas weniger zu tun als bei herkömmlichen IPOs, aber auch hier geht es um die Herstellung der Kapitalmarktfähigkeit. Spacs können aus unserer Sicht eine Alternative sein, zum Beispiel für kleine, jüngere und schnell wachsende Unternehmen, die von Spac-Sponsoren und ihren Netzwerken profitieren oder die nicht so einfach zu bewerten sind. Traditionelle IPOs werden attraktiv bleiben. In Europa haben Spacs im vergangenen Jahr gerade mal 5 Mrd. Euro am gesamten Emissionsvolumen ausgemacht – gegenüber rund 120 Mrd. Euro in den USA ohnehin eine begrenzte Bedeutung. Spacs offenbaren auch einige Stolpersteine, die zur Vorsicht mahnen.

Welche sind das?

Lilja: Zum einen ist festzustellen, dass die Performance von Unternehmen, die im Spac-Mantel an die Börse gegangen sind, im letzten Jahr alles andere als beeindruckend war: Der U.S. Spac-Index verlor 2021 16 %. Außerdem tun sich Spacs teilweise schwer, Akquisitionsziele zu finden. Deshalb sind die Rückzahlungen im vergangenen Jahr von 10 % im ersten Quartal auf 53 % im dritten Quartal angeschwollen. Bei jenen, die ein Ak­quisitionsobjekt gefunden haben, stößt der Deal mitunter auf Probleme, weil es an PIPE-(Private Investment in Public Equity)-Investoren mangelt, die einspringen für diejenigen, die ab­springen und ihr Geld zurückziehen.

Das klingt, als rechnen Sie damit, dass der Spuk vorbeigeht?

Lilja: Es wird jedenfalls eine Normalisierung eintreten. Von den 36 Spacs, die in Europa in den beiden vergangenen Jahren gelistet wurden, haben nur wenige Akquisitionen machen können – in Deutschland gerade mal drei: Home To Go /Lake­star 1, Tonies/ Spac 468 und Tado/GFJ. Home To Go handelt leider mehr als 30 % unter Emissionskurs.

Rechnen Sie auch mit regulatorischem Gegenwind für diese Vehikel?

Lilja: Den gibt es teilweise schon. Die Aufsichtsbehörden richten ihr Augenmerk auf die geringe Transparenz in den Berichtspflichten – im Vergleich zu IPOs. Außerdem erregt eine Klageflut Aufmerksamkeit, die nicht zum Vorteil von Spacs gereichen kann.

Andererseits hat man den Eindruck, dass sich im Wettbewerb der Börsenplätze vor allem London – nach dem Brexit – mit Deregulierung rüstet?

Lilja: Wettbewerb besteht zuallererst zwischen den größten Börsenplätzen in Ost und West, also zwischen den USA und China beziehungsweise Hongkong. Für eine europäische Gesellschaft stellt sich meist nur die Frage, entweder im Heimatmarkt an die Börse zu gehen oder in den USA. Es stimmt, dass London Handelsvolumen an den Kontinent verloren hat. Indes ist weniger ersichtlich, dass dies auch im Wettbewerb um neue Listings gilt. Es hat dort 126 IPOs im Jahr 2021 gegeben.

Was macht denn die Attraktivität eines Standorts aus?

Lilja: Eine gute Infrastruktur, Zugang zu Arbeitskräften, eine konstruktive Unternehmens- und Steuergesetzgebung spielen eine Rolle, pragmatische Listing-Regeln und ein überzeugendes Corporate-Governance-Regime. Vor allem aber auch eine gesunde Aktienkultur, die nicht durch zu restriktive Anlagekriterien ausgebremst wird. Die Schwäche Deutschlands zeigt sich exemplarisch darin, dass es hierzulande nur eine Handvoll sehr großer institutioneller Investoren gibt, die eine tragende Rolle bei einem IPO spielen können. In Großbritannien sind es Hunderte, in Schweden übrigens rund 20. Bemerkenswert: Das kleine Schweden hatte im vergangenen Jahr 120 IPOs, Deutschland nur 20. Deutschland ist auch weit abgeschlagen, was das Verhältnis von Börsenkapitalisierung zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) angeht. Die Gesamtmarktkapitalisierung liegt bei 56 % des BIP, im Vergleich zu 100 % in Großbritannien, 176 % in Schweden und 217 % in der Schweiz. Deutschland spielt hier nicht in der Champions League.

Woran liegt das?

Lilja: Das liegt an der mangelnden Aktienkultur. Dafür gibt es eine Reihe von ganz fundamentalen historischen Gründen, wie zum Beispiel ein unterentwickeltes Pensionsfondssystem, konservative Anlagevorschriften, die traditionell prominente Rolle der Banken mit Fokus auf Kreditfinanzierung, der große Anteil an Familienunternehmen, die lieber nicht an die Börse gehen wollen, und der historisch bedingt begrenzte Stellenwert von Shareholder Value. Diese Tatbestände sollten relevante Stakeholder ganz ernsthaft in Angriff nehmen.

Was ist zu tun?

Lilja: Zum einen müssten die soeben genannten fundamentalen Themen angegangen werden. Dies wird nicht über Nacht geschehen. Zum Zweiten: In den vergangenen Jahren, auch schon vor dem Brexit und zusätzlich zu der staatlichen Förderung von Start-ups, haben europäische Börsen begonnen, sich für Start-ups und junge, innovative Firmen mit Potenzial attraktiv zu machen. Auch die Deutsche Börse hat dabei Schritte unternommen wie beispielsweise die Einführung des Scale-Segments oder die Lockerung von Indexregeln, so dass etwa Technologieunternehmen nicht länger ausschließlich an den TecDax gebunden sind. Sicherlich kann man mehr machen, um den Gang an die Börse zu vereinfachen.

Was zum Beispiel?

Lilja: Ein möglicher hilfreicher Schritt wäre, den Bedürfnissen der Gründer junger Wachstumsunternehmen mehr Rechnung zu tragen, indem man in der Gewichtung differenzierte Stimmrechte zulässt. Ich meine das vor allem mit Blick auf die rund 30 Einhörner, die wir hier inzwischen zählen. Ein Drittel des amerikanischen IPO-Marktes 2021 waren Unternehmen mit differenzierten Stimmrechtsklassen. Um die Jahrtausendwende waren diese verschiedenen Aktiengattungen an den großen Weltbörsen in New York, London, Hongkong nicht erlaubt. Es galt strikt: one share, one vote. Mit dem Börsengang von Google wurde dies an der Wall Street aufgeweicht. In Hongkong kam 2014 mit dem IPO von Alibaba Bewegung in die Sache, und London hat 2021 differenzierte Stimmrechte von Aktien auch im Premium-Listing-Segment zugelassen. Das zeigt: Der Wettbewerb zwischen den Börsenplätzen funktioniert.

Aber war die Kritik an der Übermacht von Gründern beziehungsweise einzelnen Aktionären nicht berechtigt?

Lilja: Wir befürworten generell eine erstklassige Corporate Governance. Aber wir denken auch, es sollte der Risikoabwägung der Investoren überlassen werden, ob sie im Einzelfall eine stärkere Machtposition für Gründer akzeptieren wollen, wenn sie insgesamt vom Unternehmen und der Qualität des Managements überzeugt sind. Man kann auch zum Beispiel an eine zeitliche Begrenzung denken, wie man dies nun auch in London mit einem sogenannten „Sunset Clause“ für fünf Jahre gemacht hat. Wenn Sie uns fragen, was deutsche Einhörner für ein IPO in die USA treibt, ist das größere Verständnis dort für die Kontrolle des Unternehmens durch ein Gründerteam jedenfalls neben der eventuell höheren Bewertung ein wesentlicher Faktor.

Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht Veränderungen im Bankensektor für das künftige IPO-Geschehen? Beim Teamviewer-IPO war zum Beispiel kein deutsches Institut dabei.

Berlinger: Die Dominanz der US-Banken erscheint unumkehrbar. In den vergangenen fünf Jahren haben die Top 5-US-Institute zusammen bei 64 % des IPO-Volumens in Deutschland die Rolle der globalen Koordinatoren innegehabt. Die Deutsche Bank kommt hier auf einen Anteil von 18%.

Welche deutschen beziehungsweise europäischen Banken haben die besten Chancen?

Lilja: Es ist zu beobachten, dass die Größe der Equity-Capital-Market-Teams in amerikanischen Banken nicht unbedingt Schritt hält mit der Anzahl der vielen Mandate. Es muss sichergestellt werden, dass die Verfügbarkeit der Teams stets gewährleistet ist. Die Deutsche Bank spielt nach wie vor im Kapitalmarktgeschehen hierzulande eine wichtige Rolle und hat sich mit ihrem auf Transaktionen fokussierten Geschäftsmodell in Bezug auf IPOs erfolgreich be­hauptet. In Europa hat vor allem BNP in den vergangenen Jahren einen sensationellen Aufholprozess gestartet und sehr stark Marktanteile gewonnen. Sie war 2017 auf Nummer 10 bei den League Tables und 2021 Nummer 4.

Das Interview führte

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