Alex Gayer

„Bis Sommerende wird sich die Flotte fast verdoppeln“

Der Finanzchef der Berliner E-Scooter-App Tier Mobility über Mobilität in den Randbezirken einer Stadt, den Kredit von Goldman Sachs und Aussichten für ein IPO.

„Bis Sommerende wird sich die Flotte fast verdoppeln“

Stefan Paravicini.

Herr Gayer, wenn ich mit dem Fahrrad in Berlin unterwegs bin, muss ich derzeit eher selten einem E-Scooter von Tier ausweichen, werde aber oft von E-Mopeds mit Ihrem Firmenlogo überholt. Passt dieser Eindruck zum jüngsten Geschäftsverlauf?

Unser Anspruch ist es, Mobilität zu verändern. Die E-Scooter waren für uns nur der erste Schritt auf diesem Weg. Deshalb macht mich Ihre Beobachtung sehr zufrieden, denn mittlerweile bieten wir auch E-Mopeds und E-Bikes an. Wir wollen unseren Nutzern das beste Transportmittel für jeden Use Case bieten. Wenn man etwas längere Strecken fährt, ist ein E-Moped oft die beste Variante, für Kurzstrecken ist der E-Scooter häufig besser geeignet, für Einkäufe nutzen viele ein E-Bike und manchmal zählt ganz einfach, welches Transportmittel am nächsten ist. Wir wollen unseren Kunden das beste Erlebnis bieten, was den Zugang und die Erreichbarkeit unserer verschiedenen Angebote betrifft.

Mobilität ist auch ein soziales Thema. Stellt Tier ihre Transportmittel auch am Stadtrand zur Verfügung, oder findet man sie nur in Innenstadtlagen?

Wir wollen die Bewohner der Stadt bedienen und konzentrieren uns im Vergleich zu unseren Wettbewerbern weniger auf Touristen-Hotspots. Wir zielen mit unserem Angebot bewusst auf die täglichen Mobilitätsbedürfnisse der Stadtbewohner und decken dafür weite Teile der Stadtgebiete ab. Das bedeutet, dass wir auch in Gebieten präsent sind, die wirtschaftlich nicht ganz so interessant sind wie das Stadtzentrum.

Wie erklären Sie das Ihren Investoren?

Wir haben zwei Vorteile gegenüber dem Wettbewerb. Wir sind zum einen der effizienteste Anbieter mit den besten Unit Economics. Das ermöglicht es uns, auch in Gegenden präsent zu sein, wo die Nachfrage pro Einheit etwas geringer ist, weil unsere Marge höher ist. Zweitens unterhalten wir ein eigenes Netzwerk von Batterieladestationen, das unsere Betriebskosten auch auf einem größeren Gebiet im Vergleich zum Wettbewerb niedrig hält, weil unsere Kunden die Akkus unserer Fahrzeuge für uns tauschen können. Das gehört mit zur Strategie, ein integraler Teil des Mobilitätsangebots einer Stadt zu sein, statt nur ein Freizeitangebot für Touristen.

Wie viele solcher Ladestationen gibt es bereits im Tier Energy Network?

Wir haben die zugrundeliegende Technologie vor zwei Jahren gekauft. Einer der Entwickler ist ein ehemaliger Batterieingenieur von Tesla, der zwei Jahre daran gearbeitet hat. Wir sind Ende des vergangenen Jahres mit dem Pilotprojekt im finnischen Tampere gestartet und haben die Ladestationen mittlerweile in fünf Ländern ausgerollt. Ende des Sommers werden bis zu 4500 Ladestationen am Netz sein. Wir haben also schon reichlich Erfahrung damit gesammelt. Das hat sich für alle Stakeholder als sehr attraktiv erwiesen.

In wie vielen Städten ist Tier insgesamt aktiv?

Wir haben mit unserem Mikromobilitätsangebot im Oktober 2018 in Wien begonnen. Mittlerweile sind wir in 120 Städten in 13 Ländern präsent. Wir haben rund 80000 Transportmittel aktiv auf unserer Plattform. Bis Ende des Sommers wird sich die Flotte fast verdoppeln, zum Ende der Saison werden es also bis zu 150000 Fahrzeuge sein. Vor ein paar Wochen haben wir die Schwelle von 50 Millionen Fahrten überschritten, was mehr als 100 Millionen gefahrenen Kilometern entspricht.

Finanzieren Sie den Hochlauf der Flotte mit den 60 Mill. Dollar Fremdkapital, die Goldman Sachs Anfang Juni zur Verfügung gestellt hat?

Ja, wir haben in den vergangenen Jahren ja mehrere Eigenkapitalfinanzierungen gemacht, die jüngste im November unter Führung von Softbank mit einem Volumen von 250 Mill. Dollar. Daneben haben wir sehr hart daran gearbeitet, eine As­set-Backed Credit Facility zu bekommen. Das war in unserem Geschäft bisher nicht möglich, auch wenn es in anderen kapitalintensiven Branchen eine sehr gebräuchliche Form der Finanzierung ist. Wegen der Neuheit des Geschäftsmodells und der schwierigen finanziellen Verhältnisse bei einigen unserer Wettbewerber war es für Kreditgeber sehr schwer, Fremdkapital zur Verfügung zu stellen. Aufgrund unserer überlegenen Unit Economics und wegen der vergleichsweise langen Nutzungsdauer unserer Fahrzeuge ist es uns dennoch gelungen, mit Goldman Sachs einen erstklassigen Finanzierungspartner zu gewinnen, um den Aufbau der Flotte in diesem Jahr zu finanzieren. Diese Kreditfazilität kann nach oben skaliert werden, wenn wir unsere Flotte weiter ausbauen.

Bei Risikokapitalinvestoren sitzt das Geld derzeit ziemlich locker, warum haben Sie einem Kredit den Vorzug gegeben?

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens wollten wir ein skalierbares Finanzierungsinstrument schaffen. Jedes Mal, wenn man eine Finanzierungsrunde dreht, bedeutet das einen enormen Aufwand. Eine skalierbare Kreditfazilität ist viel effizienter, gerade wenn es um die Fi­nanzierung der Fahrzeugflotte geht. Zweitens sind die Kapitalkosten dieser Asset-Backed Credit Facility viel günstiger. Das ermöglicht es unseren Eigenkapitalinvestoren, einen besseren Return zu bekommen, was wiederum frisches Kapital anzieht.

Wollten Sie Ihren Investoren damit auch eine Bestätigung des Geschäftsmodells liefern?

Das ist jedenfalls das Echo, das wir von unseren Investoren erhalten haben, ja. Es bestätigt die Robustheit unseres Geschäfts, vor allem nach dem Covid-Jahr, in dem die Nachfrage unter Druck war und viele Wettbewerber Geld verloren haben. Die Tatsache, dass wir uns in diesem Umfeld eine Kreditlinie von Goldman Sachs gesichert haben, ist der Nachweis dafür, dass wir diesen Stresstest erfolgreich bestanden haben.

Ist der nächste Schritt ein IPO, oder werden Sie noch eine private Finanzierungsrunde drehen?

Langfristig ist ein Börsengang wohl der natürliche Pfad. Wenn man Risikokapital aufnimmt, muss man seinen Investoren irgendwann die Gelegenheit zum Exit geben. Es gibt aber keinen Zeitdruck für ein IPO. Wir haben Investoren wie Softbank und Mubadala an Bord, die uns sehr gut unterstützen und die uns auch noch sehr lange als private Firma finanzieren können.

Sie sind seit etwas mehr als zwei Jahren als CFO an Bord. Wäre die Organisation denn schon bereit für einen Börsengang?

Ich bilde mir schon etwas darauf ein, dass wir hier eine sehr robuste Organisation aufgebaut haben. Mein Anspruch ist es immer, Prozesse zu etablieren, die die Standards von börsennotierten Unternehmen erreichen. Aber das Unternehmen ist noch keine drei Jahre alt, und natürlich müssen manche Prozesse noch reifen. Wir befinden uns auf einer Reise. Ich bin dennoch zuversichtlich, dass unsere Prozesse in absehbarer Zeit auf dem Niveau eines börsennotierten Unternehmens sein werden.

Nach der jüngsten Finanzierungsrunde im November war zu hören, dass die Bewertung knapp unter 1 Mrd. Dollar lag. Wäre es wichtig, vor einem IPO den Einhorn-Status zu erreichen?

Wir haben uns im November nicht öffentlich zur Bewertung geäußert, weil wir uns auf die Leistungen der Firma konzentrieren wollten. Die Leute sollten nicht nur über die Bewertung reden. Das war eine bewusste Entscheidung, weil wir sehr stolz auf unsere Erfolge waren. Wir haben damals aber den Einhorn-Status erreicht, die Bewertung lag oberhalb von 1 Mrd. Dollar. Macht das mit Blick auf einen späteren Börsengang einen Unterschied? Aus meiner Sicht tut es das nicht.

Der US-Wettbewerber Bird hat angekündigt, 125 Mill. Dollar in die Verdoppelung seiner Flotte in Europa zu stecken. Spürt Tier schon etwas davon?

Europa ist für Mikromobilitätsangebote wahrscheinlich der beste Markt weltweit. Die Einstellung zum öffentlichen Nahverkehr, die Infrastruktur, die relativen Kosten von verschiedenen Transportmitteln und der Umgang mit Nachhaltigkeitsthemen sind ganz anders als zum Beispiel in den USA. Wir sind derzeit in 120 Städten in Europa und dem Nahen Osten präsent und glauben, dass es allein in Europa 550 Städte gibt, die für Mikromobilitätsangebote geeignet sind. Ja, es gibt verstärkten Wettbewerb, aber der Markt wächst noch viel schneller. Ja, es gibt mehr Anbieter, und das finden wir toll. Das behindert unsere Entwicklung nicht.

Wie stark hat die Pandemie das Geschäft beeinträchtigt?

Die Coronakrise hat die Branche unterschiedlich betroffen. Die ersten Lockdowns haben die Nachfrage nach Mobilität natürlich zum Einsturz gebracht. In der Folge mussten einige Anbieter dichtmachen. Wir haben uns schon vor der Pandemie auf die Effizienz unseres Angebotes konzentriert und konnten auch in dieser Zeit das Angebot aufrechterhalten, ohne Geld zu verlieren. Wir haben unseren Footprint in dieser Zeit noch vergrößert und unseren Umsatz im vergangenen Jahr fast verdoppelt.

Wie geht es nach dem Ende des Lockdowns weiter?

Wenn wir Daten aus den vergangenen sechs bis acht Wochen heranziehen, in denen die Lockdowns europaweit gelockert wurden, hat die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs um 40 bis 50% zugenommen. Im gleichen Zeitraum sind unsere Nutzerzahlen um 150% gestiegen. Wir sind überzeugt, dass wir kurz vor dem Übergang von Mikromobilität in den Mainstream stehen.

Hat die Pandemie am Ende sogar positiv dazu beigetragen?

Wir glauben, dass die Pandemie sowohl bei den Konsumenten als auch auf Seiten der öffentlichen Hand und des Gesetzgebers die Wahrnehmung verändert hat. Unsere Kunden nutzen unser Angebot häufiger und über längere Strecken. Die öffentliche Hand hat in neue Mobilitätsinfrastruktur wie Fahrradwege investiert, während Autos zunehmend aus den Innenstädten verbannt werden. Länder wie Großbritannien und Irland haben die Legalisierung von Mikromobilität beschleunigt. Die Pandemie hat den Trend zu Mikromobilitätsangebo­ten verstärkt. Es gibt Marktstudien, die den Mikromobilitätsanbietern bis 2030 mehr Umsatzvolumen als Fahrdiensten wie Uber zutrauen.

Sie haben Ihren Umsatz im Pandemiejahr verdoppelt, welche Ziele gibt es für 2021?

Ich denke, es ist realistisch, dass wir unseren Umsatz von rund 60 Mill. Euro 2020 in diesem Jahr noch einmal mindestens verdoppeln werden. Auch für die nächsten Jahre gehen wir davon aus, dass wir das Wachstumstempo auf diesem Niveau halten können.

Werden Sie dafür auch die Konkurrenz in den USA angreifen?

Unser Anspruch ist es, die Nummer 1 in Europa zu sein. Wir verfügen schon heute über den größten Footprint mit der größten Zahl von Fahrzeugen in Europa und im Nahen Osten. Wir sehen hier noch viele Städte, die von Mikromobilität profitieren können. Dort, wo wir heute nur mit E-Scootern präsent sind, wollen wir E-Bikes und E-Mopeds an den Start bringen. Wir schauen uns außerdem auch andere Transportmöglichkeiten an. Das Wachstum stützt sich also auf mehr Fahrzeuge pro Stadt, mehr Transportarten und auf mehr Städte, vor allem in Europa und im Nahen Osten.

Was wären denn noch andere Transportarten für Tier? Lufttaxis? Skateboards? Rollschuhe?

Wir beobachten laufend, welche neuen Trends und Entwicklungen es bei Elektrofahrzeugen und in der urbanen Mobilität gibt. Aktuell sind Cargo-Bikes und E-Pods sehr gefragt und würden auch für unsere Nutzerinnen und Nutzer einen Mehrwert bieten, da sich neue Anwendungs­fälle ab­decken lassen, beispielsweise der Transport von größeren Gegenständen oder Einkäufen. E-Pods wären eine Allwetter-Alternative für regnerische Tage. Aktuell konzentrieren wir uns allerdings auf den Ausbau bestehender Transportmittel und wollen zunächst den Zugang zu unseren E-Bikes, E-Mopeds und E-Scootern erweitern.

Ist das Wachstum von Tier eigentlich schon profitabel?

Wir legen Wert auf Nachhaltigkeit, und das schließt ein wirtschaftlich nachhaltiges Geschäftsmodell ein. Wir glauben an ein sehr diszipliniertes Wachstum. Wir waren deshalb auch im vergangenen Jahr auf der operativen Ebene profitabel. Wir haben in Wachstum investiert und nur deshalb auf Ebene des Ergebnisses vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) einen kleinen Verlust gemacht. Das Kerngeschäft ist aber gesund und profitabel.

Das Interview führte