Elmar Broscheit

„Das Geschäftsmodell wird nicht mehr weggehen“

Der Berliner Expresslieferdienst Gorillas hat es 2021 in Rekordgeschwindigkeit zur Milliardenbewertung geschafft. Vor wenigen Tagen hat das Start-up auch den ersten Zukauf ins Ziel gebracht. CFO Elmar Broscheit arbeitet derweil schon an der nächsten Finanzierungsrunde.

„Das Geschäftsmodell wird nicht mehr weggehen“

Stefan Paravicini.

Herr Broscheit, in Ihrem ersten Jahr als CFO von Gorillas haben Sie den Expresslieferdienst mit einem Affenzahn zu einer Milliardenbewertung geführt und insgesamt rund 1,3 Mrd. Dollar bei Investoren eingesammelt. Geht es 2022 im gleichen Tempo weiter?

Als ich Anfang des vergangenen Jahres zusammen mit einem neuen Kollegen für die Buchhaltung und einem Controller bei Gorillas an Bord ging, waren wir die ersten Mitarbeiter im Finance-Bereich. Wir haben den Bereich in wenigen Monaten auf mehr als 60 Mitarbeiter ausgebaut und zwei Runden geraist – davon eine Runde über 1 Mrd. Dollar. Wir schauen uns immer alle Finanzierungsmöglichkeiten an, denn wir haben sehr ambitionierte Wachstumspläne und müssen natürlich sehen, dass das auch mit dem nötigen Kapital hinterlegt ist.

In der Berliner Start-up-Szene wird Gorillas Interesse an einem Spac-Deal nachgesagt. Ist das für den CFO ein Thema?

Spacs werden uns natürlich immer wieder vorgestellt. Wir verfolgen das aber nicht aktiv, denn es gibt für uns genug andere Finanzierungsmöglichkeiten. Das ist für uns aktuell ein eher exotisches Instrument. Ein Spac ist derzeit nicht das Naheliegendste für die Finanzierung der Firma. Die aktuellen Gerüchte über einen Spac-Börsengang kann ich deswegen klar dementieren.

Eine weitere Finanzierungsrunde scheint für Gorillas näher zu liegen. Firmenchef Kagan Sümer hat jedenfalls gerade eine neue Runde angekündigt. Wie weit sind Sie damit fortgeschritten?

Wir sind nach den großen Runden im Herbst gut finanziert. Wir schauen uns aber natürlich laufend Finanzierungsmöglichkeiten an, die für das Wachstum des Unternehmens erforderlich sind. Konkret planen wir, 700 Mill. Dollar oder mehr einzuwerben, was es uns ermöglichen wird, unser Profitabilitätsziel weiter zu erreichen.

Welche Finanzierungsmöglichkeiten kommen denn neben klassischem Risikokapital in Frage?

Wir haben kurz vor der letzten Runde einen externen Convertible gemacht, um die Slots für die Finanzierungsrunde einzuloggen. Weil wir viele Parteien haben, gibt es hohen administrativen Aufwand. Wenn man damit bis zum letzten Tag wartet und hat 20 Parteien, deren Vehikel in der ganzen Welt verteilt sind, zieht sich das lange hin. Deshalb haben wir einige Parteien mit dem Convertible vorgezogen, um alles in einer Reihe zu haben, wenn der Signing-Termin für die Finanzierungsrunde da ist.

Hat Gorillas denn auch Zugang zu Fremdkapital?

Wir finanzieren unser Working Capital zum Teil mit Fremdkapital, zum Beispiel die Deposits für unsere Warenlager. Wenn man sich das vor drei oder vier Jahren angeschaut hätte, wäre es unmöglich gewesen, so etwas mit Fremdkapital zu finanzieren. Die Debt-Märkte werden risikoaffiner. Im großen Stil machen wir das aber nicht. Ich bin ja auch Investor bei Tier Mobility, die ihre Flotte von E-Rollern und E-Bikes zum Teil über Fremdkapital finanzieren. Auch bei solchen Modellen wäre das früher nicht möglich gewesen. Ich glaube also, dass es hier noch größere Möglichkeiten geben wird.

Wie sieht es denn auf der Equity-Seite aus? Wird es nach dem Rekordjahr 2021 und angesichts der ersten Zeichen einer Zinswende schwieriger zu funden?

Als ich 2012 bei Lieferando investiert habe, sind in dem Jahr insgesamt 300 Mill. Dollar Venture Capital in Deutschland geflossen. Heute fällt eine Finanzierungsrunde von einem Unternehmen häufig größer aus. Es ist also sehr viel Kapital im Markt, und gute Geschäftsmodelle werden weiter Investoren finden. Für den zwanzigsten Lieferdienst, der keine Skaleneffekte schafft, wird es wahrscheinlich schwieriger. Aber für die Marktführer und für Firmen, die zeigen, dass sie langfristig profitabel arbeiten können, wie wir es im Moment auch machen, wird sich Kapital finden. Das Interesse der Investoren an dem Sektor ist nach wie vor groß.

Was macht die Expresslieferdienste für Investoren attraktiv?

Die Expresslieferung von Lebensmitteln ist allein in Europa ein Markt mit einem Volumen von mehr als 2,2 Bill. Dollar. Das Geschäft ist von den Verbrauchern getrieben. Das ist auch einer der Gründe, warum ich eingestiegen bin. Wir hatten von Anfang an sehr geringe Kundenakquisitionskosten. Die gehen natürlich ein bisschen hoch, wenn man mehr Wettbewerb hat. Aber grundsätzlich braucht man erst einmal nicht viel, um einen Kunden zu überzeugen. Wenn ein Kunde aber einmal dabei ist, bleibt er dabei und bestellt auch relativ häufig. Unsere Retention Rate liegt zwei- bis dreimal so hoch wie bei den meisten anderen Konsumentenmodellen. Natürlich muss man dann immer noch schauen, wie man die Warenlager profitabel betreibt – und bei uns erwirtschaften schon einige Betriebsgewinn. Das Geschäftsmodell wird nicht mehr weggehen.

Ist Gorillas erst einmal nur eine Alternative zum „Späti“, oder könnten die Lieferdienste auch den Supermarkt ablösen?

Der Kunde heute geht am Samstag zum Supermarkt und kauft für die ganze Woche ein. Da fährt er eine halbe Stunde hin und muss sich überlegen, ob er am Mittwoch Spaghetti Bolognese essen will, bevor er für 120 Euro einkauft. Das macht natürlich keinen Sinn. Das orientiert sich an der Lieferkette des Einzelhändlers und nicht am Kundenbedürfnis. Natürlich wird es immer noch Leute geben, die in den Supermarkt gehen. Aber wir sehen eine tektonische Verschiebung in einem Massenmarkt, in dem sich ein vollkommen neues Verbraucherverhalten entwickelt. Wir arbeiten mit vielen Einzelhändlern wie Tesco in Großbritannien, Jumbo in den Niederlanden oder Casino in Frankreich zusammen. Das sind super Partner, die sich offen für dieses neue Modell zeigen und es in Kooperation mit uns ausrollen, weil sie sehen, dass das für ihre Kundenbasis relevant ist. Das ist ein Ausweis dafür, dass alle glauben, dass in dem Markt etwas passiert.

Hat die Pandemie den Siegeszug der Lieferdienste beschleunigt? Was passiert, wenn demnächst die Beschränkungen fallen?

Ich glaube schon, dass die Pandemie gerade am Anfang dazu beigetragen hat, dass das Angebot schnell eine kritische Masse erreicht hat. In Märkten wie den Niederlanden, wo noch im Dezember eine Art Ausgangssperre galt, haben wir bereits gesehen, dass es in den ersten zwei oder drei Wochen nach den Lockerungen einen leichten Rückgang gab, weil die Leute erstmal raus wollen und in die Restaurants gehen, statt bei uns zu bestellen. Aber danach geht es eigentlich sofort wieder steil nach oben, weil unser Service den Verbrauchern ihren Alltag nachhaltig erleichtert.

Der Wettbewerb nimmt zu. Was sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren im Rennen der Lieferdienste?

Es geht um die Kombination von mehreren Dingen. Das ist ein sehr komplexes operatives Modell, in dem viele Aspekte ineinandergreifen müssen, um eine gute Kundenerfahrung zu erreichen. Das beginnt mit der App, die so aufgebaut sein muss, dass sie für den Kunden Sinn ergibt und einen guten Payment Flow bietet. Dann ist natürlich der Standort der Warenlager wichtig. Wir liefern in einem Umkreis von 1,5 bis 2,5 Kilometer unserer Warenlager. Was viele vielleicht überrascht: Am besten laufen bei uns Frischeprodukte wie Obst, Gemüse und Milchprodukte. Viele denken, es geht nur um Convenience und Alkohol. Die verkaufen wir natürlich auch, aber ein hochwertiges Angebot von frischen Produkten ist besonders wichtig, denn die kauft der Kunde gerne jeden Tag frisch. Schließlich geht es natürlich auch um die Erfahrung der Kunden mit dem Fahrer.

Wie schafft man es, die Größe des Warenkorbes zu erhöhen, damit das Geschäft profitabel betrieben werden kann?

Der durchschnittliche Warenkorb liegt bei uns bereits oberhalb von 25 Euro. Damit kann man das Modell profitabel betreiben, das ist kein Problem. In der Anfangsphase ist es vor allem in Studentenstädten häufig so, dass man gerne mal ein Bier und ein Magnum bestellt. Das kann man dann nicht ewig so laufen lassen, da muss man den Warenkorb größer bekommen. Normalerweise ist es aber so, dass die Kunden über den Lebenszyklus immer mehr bestellen, weil sie in der App mehr entdecken. Das funktioniert bereits gut. Es ist aber natürlich das Ziel, die Größe der durchschnittlichen Warenkörbe weiter zu erhöhen.

Neben Lebensmittel-Lieferdiensten wie Gorillas sprießen auch Expresslieferanten für Medikamente und andere Dienste aus dem Boden. Kommt demnächst die Konsolidierungswelle?

Es gibt irgendwann sicher einen Run auf die Super App, auf der man alles macht. Für uns ist aber erst einmal wichtig, dass wir unser Kerngeschäft voll ausschöpfen. Wir sind ja ohnehin in einem Riesenmarkt unterwegs, da muss man morgen nicht auch noch Nasenspray und Co. verkaufen. Ich glaube schon, dass das passieren wird, und wir schauen uns alle Verticals an. Wir verkaufen heute schon Zubehör wie Ladekabel. Unsere In­frastruktur für die letzte Meile hat einen Wert, den wir hebeln wollen. Für uns ist es aber erst einmal wichtig, dass wir uns auf unser Modell fokussieren. Die anderen Sachen kommen dann obendrauf. Wir sind dabei in einer guten Position, weil wir eine sehr starke Kundeninteraktion haben. Und wer die höchste Frequenz mit den Kunden hat, für den ist es leichter, in andere Verticals mit geringerer Frequenz einzusteigen.

Mit der Übernahme von Frichti ist Gorillas gerade in den französischen Markt eingestiegen. Welches Kalkül steckt hinter dem ersten Zukauf?

Wir haben mit Frichti den Marktführer in Frankreich übernommen. Das ist für uns aber nicht nur mit Blick auf das französische Geschäft eine superspannende Akquisition. Denn Frichti macht das schon seit acht Jahren und betreibt ihre Warenlager sehr profitabel. Da können wir uns einiges abschauen, was wir weltweit verwenden können. So hat Frichti ihre Warenlager bereits stark automatisiert und ist außerdem sehr stark im B2B-Geschäft mit sehr großen Warenkörben für Firmenkunden. Sie machen viel Catering und haben sehr hochwertige „Ready to eat“-Produkte. Es ging uns also vor allem um die Gründer und das Management-Team, deren Know-how wir in die Organisation bringen wollen.

Wird die Expansion in neue Ländermärkte künftig häufiger mit M&A verbunden sein?

Wir schauen uns natürlich laufend M&A-Möglichkeiten an. Aber wir haben da einen sehr disziplinierten Ansatz. Ein Zukauf ist immer Stress für die Organisation. Wir wollen nur was machen, wo wir für uns auch Know-how rausziehen können – nicht nur ein paar Warenlager mit zusätzlichem Cash Burn. Es werden uns natürlich auch Unternehmen in Märkten wie Japan oder Australien angeboten, da schafft man den Markteintritt schneller, als wenn man das selber macht. Aber auch hier gilt, dass es im Moment wichtiger ist, fokussiert zu bleiben.

In wie vielen Ländern ist Gorillas denn bislang aktiv?

Wir sind in Kontinentaleuropa in Dänemark, in den Niederlanden, in Deutschland, Belgien, Frankreich, Spanien und Italien aktiv. Außerdem in Großbritannien und in den USA, wenngleich bislang nur in New York. Der Fokus liegt aber klar auf Europa.

Wie schnell wächst Gorillas?

Von Januar des vergangenen Jahres bis Dezember hat sich das Ordervolumen versiebzehnfacht. Als ich vor einem Jahr begonnen habe, waren wir 400 Mitarbeiter, jetzt sind es ungefähr 14000. Es gibt in Deutschland wenige Unternehmen, die an irgendeinem Punkt in ihrer Geschichte so stark gewachsen sind.

Es gibt auch Wachstumsschmerzen, die vor allem unter Gorillas-Fahrern zu Unzufriedenheit geführt haben. Welche Lehren hat die Firma aus den Fahrerstreiks im Sommer gezogen?

Das ist ein Thema, aus dem wir viel gelernt haben. Wir sind ein mitarbeiterzentriertes Unternehmen und suchen den konstruktiven Dialog mit unseren Fahrern. Wir haben bereits eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt wie einen Stundenlohn von 12 Euro und ein Bonussystem mit 4 Euro pro Einzellieferung, sofern die dabei entstehende monatliche Summe ihren festen Stundenlohn überschreitet. Wir haben Lastenräder und eine neue Generation E-Bikes eingeführt sowie eine neue Ausstattung mit Winter- und Regenkleidung. Im vergangenen Jahr wurden außerdem über 5 Mill. Euro In-App-Trinkgelder von unserer Crew verdient.

Ist es für Gorillas denn schwieriger geworden, Fahrer zu rekrutieren?

Wir rekrutieren natürlich andauernd Fahrer, das ist wichtig für das Wachstum. Dabei ist die größte Herausforderung, die Nachfrage mit den Fahrern zusammenbringen. Wir sind zeitweise von Woche zu Woche um 10% gewachsen. Das macht das Staffing sehr schwierig. Und weil wir großen Wert auf eine gute Kundenerfahrung legen, hatten wir am Anfang die Tendenz, zu viele Fahrer einzusetzen. Grundsätzlich ist es kein Problem, neue Leute für den Job zu gewinnen. Die Herausforderung ist das Matching, und das haben wir mittlerweile im Griff.

Der US-Lieferdienst Gopuff arbeitet laut US-Medien an einem Börsengang. Wann wird Gorillas nach Einschätzung des CFO frühestens IPO-fähig sein?

Wir schauen uns alle Möglichkeiten an, und das ist natürlich auch eine Möglichkeit. Grundsätzlich ist ein Börsengang für viele Scale-ups mittelfristig eine Option, aber wir forcieren das weder jetzt gerade noch in absehbarer Zeit.

Hat der gerade vorgenommene grenzüberschreitende Formwechsel von Gorillas Technologies in eine Holding mit Sitz in Amsterdam auch damit zu tun, dass die neue Gesellschaftsform verhältnismäßig leichter an die Börse gebracht werden kann?

Die neue Gesellschaftsform hilft uns in erster Linie, die notwendigen Strukturen aufzubauen, um nachhaltig zu wachsen und das nächste Level zu erreichen.

Das Interview führte

BZ+
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