Wolfgang Merkle

„Eine Mischung aus Ignoranz und Resignation“

Viele stationäre Händler setzen ganz auf Kostensenkungen. „Sortimente werden gekürzt und Dienstleistungen eingeschränkt“, sagt Handelsexperte Wolfgang Merkle. Um zu überleben, müsste aber mehr in Beratungsqualität, Services und Läden investiert werden.

„Eine Mischung aus Ignoranz und Resignation“

Von Martin Dunzendorfer,

Frankfurt

„Noch nie ist der Einzelhandel in seiner Gesamtheit so pessimistisch in ein neues Jahr gestartet wie 2023.“ Diese Ansicht vertritt der Handelsexperte Wolfgang Merkle, Professor für Marketing & Management an der University of Europe for Applied Sciences in Hamburg. Die hohen Inflationsraten, hervorgerufen durch stark steigende Preise u. a. für Energie und Lebensmittel, sowie die große Unsicherheit bezüglich der Entwicklung der deutschen Wirtschaft angesichts von Ukraine-Krieg, Coronakrise und Lieferproblemen belasten die Konsumlaune erheblich.

Vor allem der stationäre Einzelhandel dürfte noch stärker unter Druck geraten. Jüngst sagte der Handelsverband Deutschland (HDE) für dieses Segment eine Umsatzeinbuße von real 4 % im laufenden Jahr voraus (vgl. BZ vom 1. Februar).

Alte Rezepte zünden nicht

Merkle macht im Gespräch mit der Börsen-Zeitung deutlich, dass auch die nicht mehr ganz so negativ ausfallenden Wirtschaftsprognosen an der schwierigen Lage des Handels nichts ändern. Im Gegenteil: „Ich befürchte, dass sich einige stationäre Händler aufgrund der sich zuletzt etwas aufhellenden Konjunkturperspektiven in falscher Sicherheit wiegen.“

Denn „die Rezepte der Vergangenheit zünden nicht mehr“, so Merkle. „Viele Ladenbetreiber glauben noch an die alten Erfolgsmuster. So zielen viele stationäre Händler aus einer Excel-getriebenen Logik heraus einseitig auf Kostenoptimierung; es dominiert der Rotstift. Sortimente werden gekürzt und Dienstleistungen eingeschränkt.“

Insbesondere „angeschlagene Unternehmen versuchen, um jeden Preis Kosten zu senken, um sich zu sanieren, und machen dabei vor nichts Halt. So hat der Herrenausstatter Anson’s in weiten Teilen seines Filialnetzes den Änderungsservice eingestellt“, berichtet Merkle. „Dabei ist das einer der letzten wichtigen Gründe, warum ein Kunde bei einem stationären Textilhändler einkauft statt beim Online-Anbieter.“

In der Parfümeriekette Douglas soll der neue Chef Sander van der Laan alle Prozesse auf den Prüfstand stellen, um Kosten zu sparen. Für Merkle ist das der falsche Weg. „Das alles sind defensive Maßnahmen“, sagt er. Die viel wichtigere Kundenorientierung gerate in den Hintergrund; mithin werde nicht mehr um den Kunden und seine Loyalität gekämpft.

„Die Frage ist“, so Merkle, „ob der Konsument, der deutlich anspruchsvoller und kritischer geworden ist und der durch verschiedene Verkaufskanäle so viel Auswahl hat wie nie zuvor, dies hinnehmen wird“. Seine Antwort: Nein. „Wenn der tradierte Einzelhandel in der heutigen Welt noch Relevanz haben will bzw. behalten möchte, braucht er eine neue Einstellung.“

Der Branchenkenner, der u. a. für Tchibo, Galeria Kaufhof, Zara und Otto gearbeitet hat, betont, dass es „viel anspruchsvoller“ geworden sei, Handel zu betreiben. „Gründe sind der Wertewandel in der Gesellschaft, die Digitalisierung, der sehr intensive Wettbewerb – der nicht nur zwischen stationären und Online-Händlern, sondern auch branchenübergreifend stattfindet – und die deutlich kritischere Konsumhaltung der jüngeren Generation.“

So würden „Regallücken wegen ausverkaufter Artikel von Kunden heute nicht mehr akzeptiert. Die natürliche Reaktion ist, dass künftig online bestellt wird.“

Online-Händler machen’s vor

Denn wer im stationären Laden einkaufen gehe, müsse ohnehin einige Unbequemlichkeiten auf sich nehmen, etwa die An- und Rückfahrt, eventuell die Parkplatzsuche, das Lavieren durch zuweilen überfüllte Gänge auf der Suche nach dem gewünschten Produkt, das Warten an der Kasse und schließlich der Transport der Einkäufe nach Hause.

„Das Einkaufserlebnis war einst die Domäne des stationären Handels“, sagt Merkle. Heutzutage würden neue Dienstleistungen und hilfreiche Angebote vor allem von Online-Händlern offeriert. „Sie bieten Tutorials, Anwendungsbeispiele oder eine Vernetzung in die sozialen Medien, die Einsicht in die Erfahrungen früherer Käufer mit dem Produkt bieten. Solche Auskünfte geben mehr Sicherheit beim Produktkauf als Reklamesprüche des Unternehmens.“

Der mangelnde Service im stationären Handel „ist eine Mischung aus Ignoranz und Resignation“, erklärt Merkle, „und Resignation ist der Anfang vom Ende“. Den Kunden müsse etwas geboten werden, doch „nimmt kaum ein Unternehmen, das finanzielle Probleme hat, Geld in die Hand, um z. B. seine Märkte neu zu gestalten“. Schlimmer noch: Es werde fast überall Personal eingespart, obwohl „kompetentes, motiviertes Personal ein Eckpfeiler des stationären Handels ist, womit er gegenüber Online-Angeboten punkten kann“.

Über die Entwicklung eines Unternehmens, für das Merkle früher tätig war, ist er regelrecht entsetzt: „Beim letzten Warenhauskonzern Deutschlands, Galeria Karstadt Kaufhof, wird darüber diskutiert, von der verbliebenen knappen Belegschaft, die sie auf der Fläche haben, noch 30% einzusparen. Wenn es wirklich dazu kommt, hilft es der Kette auch nicht mehr, wenn die Konjunkturprognosen etwas freundlicher werden – denn das Geschäftsmodell an sich bietet keine echten Mehrwerte mehr.“

Merkle räumt zwar ein, dass Personal ein großer Kostenfaktor ist. „Doch wenn man so anfängt, ist man schon wieder in der Excel- und Controlling-Denke. Im Handel darf es aber nicht primär um Kostenminimierung gehen.“

Die Personalqualität habe über die vergangenen Jahre bzw. Jahrzehnte abgenommen, identifiziert Merkle einen weiteren Schwachpunkt im stationären Handel. Ein Grund dafür sei, dass die Bezahlung für Beschäftigte im Einzelhandel vergleichsweise niedrig ist. „Angesichts des Mangels an bezahlbaren Wohnungen sowie steigender Lebensmittel- und Energiepreise ist es da natürlich schwierig, motivierte Mitarbeiter zu finden, denn: ,If you pay peanuts, you get monkeys.‘“ Stationäre Händler müssten sich daher Gedanken machen über Bezahlung, Arbeitszeitmodelle und Trainings.

Mit dem Rücken zur Wand

Auf die Frage, welche Einzelhandelsbranchen mit dem Rücken zur Wand stehen, muss Merkle nicht lange überlegen: „Schlecht steht es um den Schuh-Einzelhandel, wie man am Niedergang u. a. von Reno, Görtz und Salamander sieht. Auch im Textil-Einzelhandel sieht es düster aus, etwa bei AppelrathCüpper und C&A. In dieser Branche“, ist sich Merkle sicher, „wird es zu einer Konsolidierung kommen“.

Geradezu ärgerlich wird Merkle mit Blick auf die Media-Markt-Saturn-Gruppe. Diese „war besoffen vom jahrzehntelangen Erfolg und hat es versäumt, sich rechtzeitig einer Neuausrichtung zu stellen. Die sollte man immer einleiten, so lange es einem gut geht.“ Jetzt sei es dafür zu spät. „Ich bin nicht sicher, in welcher Form diese Elektronikfachmarkt-Ketten auf Dauer überleben werden.“

Preisorientierte Betriebsformen sieht Merkle angesichts der trüben, zumindest aber unsicheren Konjunkturaussichten derzeit im Vorteil: „Lebensmitteldiscounter und Billiganbieter wie Aldi, Lidl und Netto sowie Kik, Tedi, Kodi oder Takko könnten eine Renaissance erleben.“ Doch selbst diese Unternehmen würden den Kundenservice – herunterdekliniert auf ihr Geschäftsmodell – verbessern.

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