Aufbruchstimmung

Abschied von Gewissheiten

Selten standen die Zeichen so klar auf Veränderung und Aufbruch wie an diesem Jahreswechsel. Das verschärft den Handlungsdruck und eröffnet Spielraum für Veränderungen.

Abschied von Gewissheiten

Das Jahr 2022 beginnt so, wie das Jahr 2021 begonnen hat: hohe Infektionszahlen, ein Gesundheitssystem an der Belastungsgrenze, Alltagseinschränkungen, Unsicherheit. Corona hat die Welt fest im Griff. Doch die pandemische Endlosschleife belegt nur vordergründig Stillstand: Denn selten standen die Zeichen so klar auf Veränderung und Aufbruch wie an diesem Jahreswechsel. Als selbstverständlich wahrgenommene politische und wirtschaftliche Konstellationen stehen infrage. Das verschärft den Handlungsdruck und eröffnet Spielraum für Veränderungen.

Am deutlichsten symbolisiert den Wandel in Deutschland die neue Bundesregierung: Nach 16 Jahren unionsgeführter Koalitionen erlebt die Republik mit der Ampel einen politischen Richtungswechsel in einer auf Bundesebene vollkommen neuen Konstellation. Das Dreierbündnis hat ein Programm vorgelegt, das, so geräuscharm es die Koalitionäre auch ausgehandelt haben, viel Stoff für Kontroversen liefert. Denn groß ist sein Anspruch, Dynamik zu erzeugen, im Kampf gegen den Klimawandel, gegen den Digitalisierungsstau, für die Verkehrswende oder eine Reform der Altersvorsorge.

Ein weitreichender Kurswechsel bahnt sich in der Geldpolitik an: Der gewaltige Anstieg der Inflationsraten dehnt die Definition von „vorübergehend“ inzwischen so weit, dass auch in Europa die Abkehr von der Politik des billigen Geldes denkbar wird. Während die US-Notenbank konkrete Zinserhöhungsschritte skizziert, hat die EZB zumindest in Aussicht gestellt, mit dem Ende des Anleihekaufprogramms den Weg dafür zu ebnen. Eine Zäsur für die Kapitalmärkte, nicht zuletzt für das überhitzte Immobiliengeschäft und für Banken und Versicherungen, die ihrerseits um die Zukunft ihrer angestammten Geschäftsmodelle ringen.

Ihre Ursache hat die hohe Inflationsrate auch in einer Entwicklung, die besonders für westliche Industrieländer ungewohnt ist: echter Knappheit. Energiepreise explodieren, alltägliche Konsumgüter sind nicht verfügbar, Lieferketten stocken, Fabriken stehen still. Die Verschiebung der geopolitischen Gewichte zwischen den USA, China, Russland und Europa befördert die Erosion der globalisierten Handelsströme. Und lässt betroffene Unternehmen nach Wegen aus der Abhängigkeit suchen, etwa durch die Rückverlagerung wichtiger Produktionsstätten oder die Dezentralisierung der Energieversorgung.

Dass 2022 das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen soll, hat dabei für die hiesige Stromversorgung allenfalls symbolischen Wert. Doch der Schritt unterstreicht den Druck auf Konzerne und Politik beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Verschärft durch die Tatsache, dass die Elektromobilität in den kommenden Monaten große Schritte auf dem Weg zur führenden Antriebstechnologie machen wird.

Denn für die Konsumenten ist Klimaschutz längst ein zentrales Kriterium. Das spüren auch Banken und Fondsanbieter jeden Tag. Die Nachfrage nach Sustainable Finance hat so stark zugenommen, dass 2022 vor allem eines liefern muss: konkrete, transparente und einheitliche Spielregeln für das Zukunftsgeschäft ESG.

Trotz Corona: Es herrscht Aufbruch allerorten, der 2022 nicht einfach zum dritten Jahr der Pandemie macht, sondern zum Jahr des Wandels, prägend für Jahrzehnte. Die Welt steht am Wendepunkt.

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