Corona-Pandemie

Wenn Undenkbares denkbar wird

Kollektive Schocks wie die Pandemie helfen, den Blick auf Wesentliches zu richten. Das kann frische Erkenntnisse und neuen Schwung bringen.

Wenn Undenkbares denkbar wird

Eine Pandemie dauert im Schnitt drei Jahre, heißt es. Aber egal, ob die Corona-Pandemie wirklich Ende 2022 vorbei ist oder nicht: Die Folgen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik werden sich erheblich länger zeigen. Ausmaß und Wirkungsdauer sind derzeit seriös kaum abzuschätzen. Auch wenn die Geschehnisse rund um die Spanische Grippe (1918 bis 1920) oder die großen Ausbrüche der Atemwegserkrankungen Mers (2013 bis 2016) und Sars (2002/2003) im­mer wieder als Vergleich herangezogen werden, hat sich doch Entscheidendes verändert: Die Welt ist vernetzter, die Menschen sind mo­biler geworden, und Themen, die global angegangen werden müssen, wie Klimaschutz oder Armut, sind komplexer geworden.

Trotzdem ist der Blick zurück lehrreich. Denn er zeigt, wie stark sich kollektive Schocks – und darunter fällt zweifellos auch die Corona-Pandemie – auf den Einzelnen, aber auch gesamtwirtschaftlich auswirken. Und dass daraus auch neuer Schwung entstehen kann.

Manche Wirkungskette offenbart sich erst (viel) später. So fanden sich bei Augenzeugen der New Yorker Anschläge vom 11. September Veränderungen im Methylierungsmuster – einem Mechanismus zur Genregulation –, wo­durch diese Stress schlechter verarbeiten können. Eine Allensbach-Umfrage aus dem Dezember 2021 zeigt bereits, dass sich mehr als jeder dritte Deutsche (39%) häufig ge­stresst fühlt – vor allem wegen des Eindrucks, dass das Leben wegen Corona nicht mehr planbar und kalkulierbar sei.

Wirtschaftspsychologe Georg Felser, Professor an der Hochschule Harz, erklärt: Die ständigen Wiederholungen verschlimmern die Unplanbarkeit. Man hatte gehofft, es sei überstanden, und wieder grätscht die Pandemie dazwischen. Felser zufolge verändern diese Unsicherheiten die Planungshorizonte von Menschen: Diese werden kürzer und weniger ehrgeizig. Denn nach zwei Jahren Pandemie hat sich das Gefühl festgesetzt, dass alles sehr leicht ganz anders kommen kann. Das kennen auch Unternehmer: Viele haben wegen der Pandemie Investitionen verschoben oder auf unbestimmte Zeit vertagt.

Wie stark kollektive Schocks im Gedächtnis verankert bleiben, hängt auch damit zu­sammen, wie stark wir in Zukunft an sie erinnert werden. So wurde durch 9/11 – ebenso wie in der Coronazeit – ein Gefühl der Sicherheit und Unverwundbarkeit sowie Vertrauen in die Zukunft zerstört. Wer in so massivem Ausmaß das bedroht sehe, was ihm wichtig sei, neige in der Folge dazu, noch stärker an all dem festzuhalten, was nach seiner Meinung größer sei als man selbst, erklärt Felser: „Und für die Amerikaner war das eben auch ihr spezieller ,way of life‘, in dem der Konsum eine große Rolle spielt.“

Nicht immer sind die Auswirkungen solcher Schocks auf den Konsum so eindeutig. Hierzulande stockt der private Konsum wieder, der Ökonomen zufolge die Wirtschaft kräftig ankurbeln sollte. Die Menschen ziehen sich ins Private zurück, gefühlt steht Deutschland wieder an der Stelle wie vor einem Jahr: Für viele fühlt sich das längst wie ein Lockdown an. Erneut. Dabei sind die Portemonnaies der Verbraucher trotz der Krise gut gefüllt – nicht zuletzt dank der ausgeweiteten Regelungen zur Kurzarbeit, die Firmen in der Pandemie stärker als in der globalen Finanzkrise nutzen.

3% haben die privaten Haushalte 2020 weniger ausgegeben als im Vorjahr – und es steht zu erwarten, dass der Konsum gedrosselt bleibt. In vergleichbaren Situationen habe sich gezeigt, dass die Ausgaben zwar wieder anstiegen, aber nicht das vorherige Niveau erreichten. Wirtschaftspsychologe Felser erklärt dies damit, „dass solche Krisen dazu zwingen, auf das zu fokussieren, was wirklich wichtig ist“. Nur eine kleine Gruppe werde sich sozusagen für den Verzicht der Vergangenheit entschädigen. Hanno Beck, Ökonom an der Hochschule Pforzheim, führt noch einen wichtigen Aspekt an: Auch die Risikovorsorge spielt eine Rolle. Dass die Deuschen mehr Geld zurücklegen, zeigt die auf 16,1% gestiegene Sparquote. Von 2015 bis 2019 lag der Mittelwert bei 10,6%. Manche legen das gesparte Geld Beck zufolge auf ein „mentales Sparkonto“ und geben es nicht mehr so leichtfertig für Konsum aus. Dagegen könnten Un­ternehmen rasch in den Inves­titionsmodus um­schalten, wenn ein Ende der Pandemie absehbar ist.

Auch hier ist Zuversicht eine zentrale Stellschraube, wie Ökonomen der KfW in einer Studie betonen. Dabei investieren deutsche Unternehmen seit langem zu we­nig: Das letztmalige Hoch vor der globalen Finanzkrise wurde nie wieder erreicht. Die Coronakrise hat den langjährigen Trend verschärft. Gerade Krisen aber fördern Kreativität und können damit den Fortschritt antreiben, wie Fachleute der KfW betonen. Wenn „alles läuft“, fehlen die Anreize für Veränderungen, erst dann wird modernisiert, werden neue Denkwege beschritten – und die Ergebnisse auch umgesetzt. Fortschritt ist, so besehen, überlebensnotwendig. Nicht zu vergessen seien, so die KfW, auch die positiven Auswirkungen ab­geschlossener In­no­vati­onsvorhaben auf Produktivität, Um­satz und Be­schäf­tig­tenzahl. Zudem strahlten Innovationen auf die Gesamtwirtschaft aus. Internationale Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand wachsen. Im besten Fall winken Lösungen für gesellschaftliche Probleme, etwa in der Krankheitsbekämpfung. Der Erfolg von Biontech und deren Corona-Impfstoff ist das beste Beispiel.

Überhaupt: Die Pandemie hat den Nutzen gezeigt, zuvor Undenkbares einfach mal zu machen. Selbst im Autofahrerland Deutschland haben Städte bislang sakrosankte KfZ-Fahrspuren im Rekordtempo in Radwege gewandelt, nachdem so viele auf den Drahtesel umgestiegen sind. Die Homeoffice-Pflicht hat gezeigt, dass die Produktivität am heimischen Küchentisch entgegen den Be­fürchtungen von Arbeitgebern doch nicht so übel ist. Nur 13% der vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Befragten berichten von einer Verschlechterung. Laut einer PwC-Umfrage unter Arbeitgebern und Arbeitnehmern setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Büroarbeit von morgen zunehmend zu Hause stattfinden wird. 96% der Unternehmen entwickeln neue Büroarbeitsplatzkonzepte. Zwei bis drei Tage Homeoffice pro Woche gelten als ideal. Etliche Banken verhandeln über langfristige Vereinbarungen, die mobile Arbeit vorsehen – mit bis zu 40% (DekaBank), 50% (Helaba) oder gar 80% (Nord/LB).

Von Alexandra Baude, Frankfurt

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