Geldpolitik

EZB muss Balanceakt meistern

Die bevorstehende Ratssitzung der Europäischen Zentralbank steht unter dem Eindruck der steil ansteigenden Inflation. Forderungen nach einer schnelleren Zinswende werden lauter.

EZB muss Balanceakt meistern

Von Stefan Reccius, Frankfurt

Weiß die Europäische Zentralbank (EZB) ein weiteres Mal zu überraschen? Diese Frage treibt Beobachter vor den geldpolitischen Beschlüssen am Donnerstag um. Die Ausgangslage ist heikel: Der Ukraine-Krieg und der damit einhergehende Energiepreisschub haben die ohnehin hohe Inflation im Euroraum im März auf 7,5% getrieben. Die Teuerungsrate hat einmal mehr die Erwartungen bei Weitem übertroffen und ist auf den mit Abstand höchsten Wert seit Einführung des Euro 1999 gesprungen.

Es wirkt wie ein Déjà-vu: Schon den vorangegangenen Ratssitzungen im Februar und März gingen Inflationsmeldungen voraus, mit denen Ökonomen und wohl auch die Euro-Währungshüter in der Höhe nicht gerechnet hatten. Daraufhin zeigte sich die EZB in Sachen Kursverschärfung entschlossener, als viele erwartet hatten – zunächst im Ton, dann in der Sache. EZB-Chefin Christine Lagarde deutete eine mögliche Zinserhöhung in diesem Jahr zunächst verbal an. Dem folgte der Beschluss, den Ausstieg aus den Anleihekäufen zu beschleunigen, wodurch Zinserhöhungen näherrücken.

Und nun, weitere fünf Wochen und den „nächsten Inflationsschock“ später, wie mancher Beobachter den Rekordwert von 7,5% quittierte? Diesmal haben die EZB-Notenbanker einige Tage mehr Zeit, die jüngsten Zahlen zu verdauen. Das hat führende Ratsmitglieder freilich nicht davon abgehalten, sogleich Position zu beziehen. Bundesbankchef Joachim Nagel drängt zur Eile: Der EZB-Rat dürfe „nicht die Gelegenheit verpassen, rechtzeitig gegenzusteuern“. EZB-Chefvolkswirt Philip Lane kontert, indem er vor Schnellschüssen warnt. Beide haben für ihre jeweilige Sichtweise Unterstützer im EZB-Rat.

Ein umfassendes Lagebild in Form aktualisierter Konjunktur- und Inflationsprognosen, die Lane abwarten möchte, wird der EZB-Stab turnusmäßig erst zur Juni-Sitzung vorlegen. Das spricht mit Blick auf den 14. April gegen Signale oder gar Beschlüsse, die den avisierten Kurs schon jetzt nochmals deutlich verschärfen. Dafür spricht, dass sich immer mehr nationale Notenbanker aus der Deckung wagen und offen baldige Zinserhöhungen fordern.

Dafür müsste der EZB-Rat zu­nächst beschließen, die Nettokäufe von Staats- und Unternehmensanleihen vollständig zu beenden. Diese Abfolge, das sogenannte Sequencing, hat der EZB-Rat zuletzt bekräftigt. Nach gegenwärtigem Fahrplan könnte es im dritten Quartal so weit sein. Bis Ende Juni sollen die Zukäufe sukzessive auf ein Minimum sinken.

Druck und Erwartungshaltung steigen so stark wie die Inflationsrate – vor allem, aber längst nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit. Führende Vertreter von Privatbanken und Sparkassen trommeln für eine zügigere Zinswende. Der Kampf gegen die Inflation müsse angesichts der Wucht des Preisdrucks Priorität vor der wirtschaftlichen Abschwächung haben, so die Argumentation. Die Zinsspekulationen laufen heiß: Die Volkswirte der Deutschen Bank rechnen neuerdings damit, dass der Leitzins von September dieses Jahres bis Dezember 2023 von −0,5% auf 2,0% steigt. Andrew Kenningham, Europa-Chefvolkswirt des britischen Analysehauses Capital Economics, bringt eine erste Zinserhöhung sogar schon für Juli ins Spiel.

Der EZB-Rat steuert auf einen delikaten Balanceakt zu: Er muss Entschlossenheit zum Gegensteuern zeigen, ohne den Eindruck zu erwecken, selbst in Inflationspanik zu verfallen.