ÖkonomenumfrageJörg Krämer

„Ich sehe das Risiko, dass die EZB ihre Zinsen zu früh senkt“

EZB-Präsidentin Christine Lagarde sieht Anzeichen einer Stabilisierung beim Lohnwachstum. Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer mahnt angesichts der Lohnentwicklung dennoch zur Vorsicht. Weshalb, erklärt er im Interview der Börsen-Zeitung.

„Ich sehe das Risiko, dass die EZB ihre Zinsen zu früh senkt“

Herr Krämer, was ist aus Ihrer Sicht die überraschendste Nachricht, die von der geldpolitischen Sitzung der EZB ausging?

Die Hauptbotschaft war unverändert, nämlich dass der EZB-Rat eine Diskussion über Zinssenkungen für verfrüht hält. Aber EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat den Zinssenkungserwartungen mit ihrer Bemerkung Nahrung gegeben, dass es beim Lohnwachstum Anzeichen einer Stabilisierung gebe.

Für wann rechnen Sie mit einer ersten Zinssenkung der EZB?

Ich erwarte die erste Zinssetzung für Juni. Dann erst wird die EZB die Lohnabschlüsse des ersten Quartals kennen und in den neuen Inflationsprognosen berücksichtigen. Darauf hat jüngst EZB-Chefvolkswirt Philip Lane hingewiesen.

Wie hoch ist aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass die EZB zu spät die Zinsen senkt?

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat die Inflation nach den beiden Ölpreisschocks der 70er Jahre für viele Länder untersucht. Die Forscher stellten fest, dass das Inflationsproblem immer dann nicht gelöst wurde, wenn die Zentralbank nach einem Rückgang der Inflation zu schnell den Sieg über die Inflation erklärt und ihre Zinsen zu früh gesenkt hat. Insofern sehe ich auch diesmal das Risiko, dass die EZB ihre Zinsen zu früh senkt.


Der Interviewte: Jörg Krämer ist Chefvolkswirt der Commerzbank und gehört zu den am meisten zitierten Volkswirten in deutschen Medien. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit zählt die Auseinandersetzung mit der Geldpolitik der EZB.


Wie wird sich die Euro-Inflation 2024 entwickeln?

Das Abebben der Preissteigerungen bei Energie und Nahrungsmittel sowie das Ende der Materialengpässe senkt auch die Kerninflation etwas. Deshalb dürfte sie in den kommenden Monaten noch sinken. Aber die hohen Lohnsteigerungen sprechen dafür, dass sich die Inflation am Ende eher bei 3% als beim EZB-Ziel von 2% einpendelt. Die letzte Meile bei der Inflationsbekämpfung ist immer die schwierigste.

Was ist derzeit das größte Aufwärtsrisiko für die Inflation?

Das größte Aufwärtsrisiko für die Inflation geht von den Löhnen aus, die viel stärker steigen, als mit dem Inflationsziel von 2% vereinbar ist. Die Löhne dürften weiter kräftig zulegen, weil Arbeitskräfte knapp sind und die meisten Arbeitnehmer einen massiven Kaufkraftverlust erlitten haben, den die Gewerkschaften ausgleichen wollen.

Kann die Eurozone eine Rezession in diesem Jahr vermeiden?

Wir rechnen mit einem leichten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Winterhalbjahr. Aber die Unternehmen werden wegen des Arbeitskräftemangels kaum Mitarbeiter entlassen. Das stabilisiert den Konsum und verhindert eine tiefere Rezession.

Wie schätzen Sie die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands ein?

Die deutsche Wirtschaft entwickelt sich seit 2017 schlechter als der Rest des Euroraums. Ein neues Zinsregime, hohe Energiepreise, eine jahrelange Erosion der Standortqualität, nachlassender Rückenwind aus China – all das spricht für ein erneutes Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr. Wir prognostizieren weiter ein Minus von 0,3%.

Das Interview führte Martin Pirkl.



Mehr zum Thema:

Einen analytischen Bericht zum Zinsentscheid der EZB können Sie hier nachlesen. Einen Kommentar zur jüngsten Kommunikation der Notenbank finden Sie hier.

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