Stefan Gerlach

„Zweimal falsch ergibt nicht einmal richtig“

Nahezu weltweit liegt die Inflation deutlich oberhalb der Ziele der Notenbanken – die die Entwicklung lange unterschätzt haben. Nun erhöhen sie wie nie zuvor die Leitzinsen – was aber auch Sorgen vor einem Konjunktureinbruch schürt. Im Interview spricht der Geldpolitikexperte Stefan Gerlach über die Lage.

„Zweimal falsch ergibt nicht einmal richtig“

Mark Schrörs.

Herr Gerlach, die Zentralbanken weltweit stemmen sich mit beispiellosen Zinssenkungen gegen die vielerorts rekordhohe Inflation. Sie sorgen sich und sprechen von einem „Brustklopfen“ der Zentralbanker, also dem Versuch, Stärke zu zeigen. Was sorgt Sie?

Die Inflation ist zu hoch und die Zen­tralbanken sollten natürlich die Zinsen anheben. Aber manchmal hat man das Gefühl, dass ihre Hauptsorge nicht die hohe Inflation ist, sondern dass sie in der Öffentlichkeit als inkompetent und als gleichgültig gegenüber der Inflation angesehen werden. Und um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen, wollen sie nun zeigen, wie hart sie sind und wie stark sie die Zinsen anheben. Es ist, als ob sie miteinander wetteifern, wer die größte Zinserhöhung wagt. Zweimal falsch ergibt aber nicht einmal richtig. Sie sollten jetzt nicht übertreiben, nur weil ihnen vorgeworfen wird, die Inflation unterschätzt zu haben. Es ist vielmehr eine sorgfältige Analyse erforderlich.

Die Inflation liegt aber vielerorts weit über den Inflationszielen der Zentralbanken, in den USA bei 8,3%, im Euroraum bei 9,1%. Können die Zentralbanken da überhaupt anders, als alles zu tun, die Inflation wieder zu senken?

Nein, sie sollten natürlich die Zinsen erhöhen. Aber ein großer Teil der hohen Inflation ist auf die hohen Energiepreise zurückzuführen, die jetzt sinken. Diese Komponente wird sich in den nächsten Quartalen wahrscheinlich auflösen. Bei der Festlegung der Politik sollten sich die Zen­tralbanken auf den Teil konzentrieren, der nicht auf die Energiepreise zurückzuführen ist. Und sie sollten nicht vergessen, dass sie sich auch um das Risiko einer Rezession sorgen müssen. Ein Absenken der Inflation um den Preis einer massiven Rezession ist kein Gewinn.

Die Befürworter starker Zinserhöhungen trotz Konjunkturverlangsamung argumentieren, dass stabile Preise viel wichtiger für den mittel- und langfristigen Wirtschaftsausblick seien. Teilen Sie diese Einschätzung nicht?

Stabile langfristige Inflationserwartungen sind wichtig, aber meiner Meinung nach gibt es kaum Anzeichen dafür, dass diese steigen. Die durchschnittlich erwartete Inflationsrate in den nächsten fünf oder zehn Jahren hängt sehr stark von der erwarteten Inflationsrate im nächsten und übernächsten Jahr ab. Diese Erwartungen haben sich erhöht. Es gibt indes viel weniger Anzeichen dafür, dass die erwartete Inflation in drei oder mehr Jahren gestiegen ist.

Die große Sorge der Zentralbanken gilt genau einer solchen Entankerung der Inflationserwartungen und einer Lohn-Preis-Spirale, mit der sich die Inflation verfestigt.

Es ist klar, dass die Löhne auf vergangene Preissteigerungen reagieren, da die Arbeitnehmer einen Ausgleich für den erlittenen Kaufkraftverlust wünschen. Dass die Preise auf vergangene Lohnsteigerungen reagieren, ist weit weniger klar. Die Lohn-Preis-Spirale entstand in den 1970er Jahren aufgrund des hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrades. Heute sind die Gewerkschaften wegen des Wachstums des Dienstleistungssektors viel weniger wichtig. Außerdem wussten die Unternehmen damals, dass die Zentralbanken ihnen durch eine akkommodierende Politik aus der Patsche helfen würden, wenn sie zu hohen Lohnerhöhungen zustimmten. Das wird jetzt nicht passieren. Insgesamt ist das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale sehr viel geringer.

Lässt sich die aktuell hohe Inflation überhaupt wieder senken, ohne eine Rezession auszulösen?

Das hängt davon ab, wie stark die Zentralbanken reagieren. Eine längere Phase sehr restriktiver Geldpolitik birgt die Gefahr, dass viele Volkswirtschaften in eine Rezession abrutschen, und zwar nicht nur wegen der restriktiveren Politik, sondern auch, weil höhere Energiepreise die Produktionskosten der Unternehmen in die Höhe treiben und ihre Rentabilität verringern. Und natürlich ist ein geringerer Handel mit Russland nicht hilfreich.

Die Zentralbank der Zentralbanken BIZ unterstützt den rigiden Kurs und warnt, dass die Weltwirtschaft an der Schwelle zu einem neuen Inflationsregime stehe. Sind die Zeiten sehr niedriger Inflation endgültig vorbei?

Die BIZ hat in den vergangenen 30 Jahren argumentiert, dass die Zentralbanken sich nicht um die Inflation und die Risiken für die Finanzstabilität kümmern und dass höhere Zinssätze erforderlich sind. Die Tatsache, dass die Zentralbanken in der ganzen Welt niedrigere Zinssätze festgesetzt haben, deutet darauf hin, dass sie nicht einverstanden waren. Vielleicht können wir daraus etwas lernen?

In den USA geht die Inflation nun leicht zurück, wenngleich auf sehr hohem Niveau. Sollte die Fed das Tempo ihrer geldpolitischen Straffung mit Zinserhöhungen und Bilanzabbau deswegen etwas drosseln?

Nein. Die Kerninflation ist im August gestiegen und ist viel zu hoch, so dass die Geldpolitik straff bleiben muss. Die Frage ist eher, um wie viel höher die Zinsen steigen sollten. Das ist schwer zu beurteilen, weil die Auswirkungen höherer Zinsen auf die Inflation erst mit einer langen Verzögerung spürbar werden. Es könnte sinnvoll sein, dass die Fed darüber nachdenkt, das Tempo der geldpolitischen Straffung im vierten Quartal zu verlangsamen.

Die EZB hat vergangene Woche mit einer Rekord-Zinserhöhung von 75 Basispunkten auf die hohe Inflation reagiert und weitere Schritte avisiert. Zudem nimmt die Debatte über einen Abbau der Bilanz zu. Wie beurteilen Sie den jüngsten Schritt und wie sollte es jetzt weitergehen?

Die Schlüsselfrage, vor der die EZB steht, ist, wie schnell sie die Inflation wieder auf 2% bringen sollte. Eine Straffung der monetären Bedingungen ist notwendig, aber die EZB muss vorsichtig sein. Europa ist den Kosten und der mangelnden Verfügbarkeit von russischem Gas viel stärker ausgesetzt als die USA, und das Risiko einer Rezession ist viel höher. Die Menschen sind zu Recht besorgt über die hohe Inflation. Eine tiefe Rezession könnte sie zum Umdenken bewegen.

Die Fragen stellte

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