Börsenbetreiber

London ist kein Vorbild für die Schweiz

Während in London radikale Reformüberlegungen für den Finanzplatz die Runde machen, halten die Eidgenossen EU-Regeln hoch. Dies stellt Jos Dijsselhof, Chef der Schweizer Börse Six, klar. Die Schweizer Börse will so weit wie möglich mit der EU-Regulierung im Einklang bleiben, betont er.

London ist kein Vorbild für die Schweiz

Von Daniel Zulauf, Zürich

Liz Truss ist die künftige neue Regierungschefin in Großbritannien. Ihre parteiinterne Wahl verdankt sie den Brexit-Hardlinern, die von der Boris-Johnson-Nachfolgerin nicht zuletzt neue wirtschaftliche Impulse für den Londoner Finanzplatz erwarten. In der britischen Hauptstadt macht das magische Wort Deregulierung die Runde. Seit dem Austritt aus der EU lobbyieren einflussreiche Interessengruppen auf der Insel für eine Art Neuauflage des „Big Bang“, wie ihn einst Margaret Thatcher dem Londoner Finanzplatz verpasst hatte. Die Gelegenheit für radikale Reformen sei einmalig, schrieb Michael Findlay, Chairman der London Stock Exchange, in einem vor wenigen Tagen publik gewordenen Brief an die Aufsichtsbehörde, die Financial Conduct Authority. Die Chance dürfe nicht vergeben werden, wenn die Londoner Börse den Abstieg in die Regionalliga verhindern wolle.

Die aktuellen Vorgänge im Königreich werden auch in der Schweiz mit großem Interesse verfolgt. Als Antwort auf die im Januar 2018 eingeführte zweite Europäische Finanzmarktrichtlinie (Mifid II) schuf die Schweiz ihr eigenes, umfangreiches Finanzdienstleistungsgesetz, das in weiten Teil passgenau auf Mifid II zugeschnitten war. Viele vor allem kleinere Akteure auf dem Schweizer Finanzplatz sträubten sich vergeblich gegen die Einführung von Fidleg, das sie als weit überzogene Regulierungsmaßnahme sahen. Doch die international ausgerichteten Branchenakteure, die sich von einer Mifid-kompatiblen Schweizer Fi­nanzmarktregulierung einen besseren Zugang zum europäischen Binnenmarkt versprachen, verhalfen Fidleg zum politischen Durchbruch.

Ironischerweise aber trat das Gesetz im Januar 2020 in Kraft – sechs Monate nachdem die EU der Schweizer Börse die Anerkennung einer äquivalenten Regulierung verweigert hatte. Mit dieser Maßnahme bestrafte die EU-Kommission die Schweiz dafür, dass sich das Land nicht den von der EU-Kommission geforderten Bedingungen für ein institutionelles Rahmenabkommen un­terwerfen wollte, unter dem die EU eine dynamische Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz durchzusetzen beabsichtigt hatte.

Das britische Vorgehen genießt in der Schweiz deshalb viele Sym­pathien, umso mehr, als gewisse Mifid-Regeln in der traditionell liberalen Schweizer Finanzmarktgesetzgebung eher exotisch wirken. Dazu gehört etwa der in vielen EU-Staaten, nicht aber in der Schweiz tief verankerte Gedanke des Anlegerschutzes. So stößt die sogenannte „Eignungsprüfung“, die Finanzdienstleister in der Schweiz seit 2020 an ihren Kunden vornehmen müssen, nicht nur bei den meisten Banken und Finanzdienstleistern, sondern auch bei deren Kunden häufig auf Kopfschütteln.

Zwar hat das Schweizer Fidleg die Mifid-Regulierung hier und dort abgemildert. Doch auf dem Schweizer Finanzplatz wünschen sich dennoch viele eine Rückkehr zu den alten Zeiten, wie man diese in London gerade zu erwägen scheint. Dort fordern Kreise entschiedene Einschnitte beim Anlegerschutz zugunsten einer besseren Gesamtattraktivität des Marktes. Die Londoner Börse müsse ihre Zulassungsregeln lockern, die für die Banken seit 2018 erforderliche Trennung zwischen Wertpapieranalyse und Wertpapierverkauf aufheben und sogar die europäischen Solvenzvorschriften für Versicherungsunternehmen lockern, damit diese wieder leichter am Finanzmarkt investieren können, lauten nur einige der Forderungen, mit denen die britische Finanzmarktaufsicht gerade überschwemmt zu werden scheint.

Jos Dijsselhof, der Niederländer, der seit 2018 der Schweizer Finanzmarkt- und Börsenbetreiberin Six vorsteht, sieht in dem radikalen Schnitt mit der EU, wie ihn die Briten nun diskutieren, trotz allem keine Blaupause für die Schweiz. „Die Situation von Six Swiss Exchange ist zwar ähnlich wie jene der London Stock Exchange, aber eben nicht gleich“, sagt er im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Findlay scheine für seinen Markt jetzt eine Chance zu sehen, durch regulatorische Änderungen die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. „Unsere Strategie ist es aber schon immer gewesen, so weit wie nur möglich mit der Regulierung der EU im Einklang zu sein“, erklärt der Niederländer, der vor seinem Umzug in die Schweiz kurze Zeit die Euronext geführt hatte. „Natürlich pflegen wir zum Beispiel mit unserem Konzept der Selbstregulierung auch Unterschiede zum EU-Regulierungsansatz. Aber es gibt für uns keinen wichtigen Grund, von unserer Strategie gegenüber der EU abzuweichen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die EU aus politischen Gründen seit drei Jahren die Äquivalenz der Schweizer Börsenregulierung nicht anerkennen will.“

Regulierung ist nicht alles

„Ich denke, man sieht in den Aussagen von Herrn Findlay, dass die EU und Großbritannien eine Scheidung hinter sich gebracht haben. Aber wir waren nie mit der EU verheiratet und müssen uns deshalb auch weniger abgrenzen“, sagt der Six-Chef. „Es ist aber klar, wenn wir Chancen sehen, die Wettbewerbsfähigkeit unseres Börsenplatzes zu verbessern, dann nutzen wir diese. Die Regulierung ist aber nur ein Element in einem komplexen System. Es geht auch um Steuern und viele andere Faktoren.“

Freilich befinden sich die Schweiz und Großbritannien seit dem Brexit in einem beschleunigten Annäherungsprozess, der im kommenden Jahr zur Aufnahme von offiziellen Verhandlungen über ein modernes und umfassendes Freihandelsabkommen gipfeln wird. Zusammenarbeit suchen die beiden Länder speziell auch im Finanzbereich. „Wir haben uns kurz nach dem Brexit bilateral darauf verständigt, die Äquivalenz der jeweiligen Börsenregulierung anzuerkennen. Seither werden Schweizer Aktien wieder auf britischen Plattformen gehandelt. Deren Marktanteil ist in der Folge wieder auf 30 % gestiegen. Der Marktanteil an Schweizer Aktien an der Six Swiss Exchange liegt bei rund 70 %. Diese Kooperation gilt es weiter zu vertiefen, ohne die Verbindungen zur EU zu kompromittieren.“

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