Chronik 2022

Krisen ohne Ende

Krieg in der Ukraine, Energiekrise, Inflation – die Rückkehr zur Normalität nach Corona fiel 2022 aus.

Krisen ohne Ende

Wer gehofft hatte, nach zwei von der Corona-Pandemie geprägten Jahren wäre 2022 endlich Schluss mit Masken, Lockdowns und anderen Beschwernissen, wurde nicht enttäuscht – und dürfte dennoch kaum zufrieden sein. Denn auch wenn in diesen Tagen die letzten Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus vor dem Aus stehen, waren Krisen im abgelaufenen Turnus keine Mangelware. Im Nachhinein lässt sich das zwar leicht sagen, aber viele Krisen waren tatsächlich bereits im vorangegangenen Jahr absehbar. Es ist wohl der allgemeinen Krisenmüdigkeit geschuldet, dass wir alle nicht so genau hinsehen wollten.

Die russische Armee hatte sich 2021 über Monate an der Grenze zur Ukraine positioniert. Zugleich hatte Gazprom den größten Gasspeicher Deutschlands leer laufen lassen. Bereits im Januar war der Füllstand bei nur 4%. Der Angriff auf die Ukraine am 24. Februar war also lange vorbereitet und sichtbar für jene, die hinschauen wollten. Dennoch glaubten bis unmittelbar vor der Attacke nur wenige daran, dass es tatsächlich zu einem Angriffskrieg auf europäischem Territorium kommt.

Auch die Inflation ist nicht allein Folge des Kriegs, sondern hatte sich bereits 2021 abgezeichnet. Die Notenbanken wollten dies zum damaligen Zeitpunkt noch nicht wahrhaben. Doch die Hoffnung der EZB, dass ein Zurückgehen der Energiepreise auch die Inflation würde eindämmen können, ohne dass zu sehr an der Zinsschraube gedreht werden muss, fiel spätestens mit dem Kriegsausbruch in sich zusammen.

Unmittelbar schlägt mittelbar

Bei allem, was auch der Autor dieses Rückblicks nicht auf dem Zettel hatte, hat sich zumindest manche Einschätzung des Vorjahres als zutreffend erwiesen: Menschen, die unmittelbare Sorgen und Nöte haben, werden mittelbare Gefahren wie den Klimawandel meist als nachrangig einstufen. Dass der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck dafür gesorgt hat, dass hierzulande Flüssiggas-Terminals in Rekordzeit aufgestellt wurden und Kohlekraftwerke länger am Netz bleiben, ist genau dieser Logik geschuldet. Sie ist auch der Grund, warum von den Argumenten der Letzten Generation quasi nichts kleben geblieben ist – trotz zahlreicher Aktionen. Je aussichtsloser ihr Anliegen, desto höher die Frequenz der umstrittenen Protestaktionen der Klimabewegung: eine kon­traproduktive Strategie. Wer Menschen unmittelbare Probleme beschert – etwa durch Straßenblockaden –, zieht die Aufmerksamkeit vom mittelbaren Problem des Klimawandels ab, statt diese darauf zu lenken.

Wie diffizil das Spiel mit der Aufmerksamkeitssteuerung sein kann, hat im abgelaufenen Jahr auch Elon Musk erfahren. Der Tesla-CEO, der gerne mit der Öffentlichkeit spielt, wenn es bei Tesla gerade wenig Positives zu berichten gibt, hat scheinbar sein Gespür verloren. Zumindest hat er sich 2022 um Kopf und Kragen getwittert, Milliarden an Börsenwert vernichtet und mehr oder weniger versehentlich den Kurznachrichtendienst Twitter übernommen.

Die vorjährige Einschätzung, dass alles Virtuelle nichts mehr wert ist, wenn die echte Welt ins Wanken gerät, ist derweil gut gealtert. Die Kryptodevisenwelt liegt fast schon in Trümmern. Die Insolvenz der Kryptobörse FTX hat das Vertrauen vieler Investoren nachhaltig erschüttert. Auch die Regulierungsbehörden haben die Branche genau in den Blick genommen. Dass viele Kryptowerte keinen inneren Wert haben, scheint manchem Marktteilnehmer eine neue Erkenntnis. Statt einer Anlage sind Bitcoin und Co. allenfalls spekulative Wetten – mit dem Risiko des Totalverlusts.

Ist nun endlich Schluss mit den Krisen? Leider nein. Die Inflation wird uns länger begleiten. Eine mehr oder weniger heftige Rezession steht uns ins Haus. Und am schwersten wiegt: Ein Ende des Kriegs in der Ukraine zeichnet sich nicht ab. Woraus also Hoffnung schöpfen? Vielleicht daraus, dass es meist anders kommt als gedacht. Und nach dem bitteren Jahr 2022 darf es im nun beginnenden Jahr 2023 durchaus auch mal besser kommen als befürchtet. Auf ein Neues.

Von Sebastian Schmid, Frankfurt

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