Christoph Rieger

„Anlage­notstand bleibt wohl hoch“

Christoph Rieger, Leiter des Zinsresearch der Commerzbank, legt im Interview der Börsen-Zeitung sein neues Weltbild für die Bondmärkte bzw. die Zinsentwicklungen, ihre Ursachen und die Marktauswirkungen vor.

„Anlage­notstand bleibt wohl hoch“

Kai Johannsen.

Herr Rieger, noch im Januar dieses Jahres waren Sie ein Verfechter des Niedrigzinsumfeldes. Nun sehen Sie Risse im Fundament des strukturellen Niedrigzinsumfeldes, das seit Jahrzehnten eine wichtige Säule der Fixed-Income-Strategie Ihres Hauses ist, die bis in die „Dresdner-Bank-Tage“ zu­rückreicht, die Sie ja schon aktiv mitgestaltet haben. Ein Blick zurück: Was hielt Anfang dieses Jahrtausend die Bondrenditen niedrig?

Die Zeit nach dem Ende der inflationären 1970er und 80er Jahre kann als „Great Moderation“ bezeichnet werden. Neue Technologien, Globalisierung, insbesondere die Integration Chinas in die Weltwirtschaft und nicht zuletzt glaubwürdige inflationsbekämpfende Zentralbanken begünstigten rückläufige Volatilität und damit geringere Laufzeitprämien, strukturell niedrigere Renditen und flachere Kurven.

Und welche Implikationen hatte der Lehman-Kollaps?

Mit der großen Moderation war es dann zwar vorbei. Allerdings hatte die geringe Volatilität im Vorfeld der Finanzkrise zur Entstehung von Spekulationsblasen, Leverage und wirtschaftlichen Ungleichgewichten beigetragen. Die Zeit nach Lehman hatten wir dann als „Great Unwind“ bezeichnet. Der Abbau dieser Exzesse führte zu einer längeren Phase mit niedrigerem nominalen BIP-Wachstum und damit einhergehend noch niedrigeren Anleiherenditen.

Und was konnte aus der Zeit ab 2015 gelernt werden?

Die Zeit ab 2015 war in Europa durch den fragwürdigen Kampf der EZB gegen als zu gering erachtete Inflation dominiert. Negativzinspolitik, groß angelegte Anleihekäufe und Forward Guidance führten dabei zu einem weiteren Rückgang der Euro-Renditen und Laufzeitprämien, was auch auf andere entwickelte Märkte ausstrahlte.

Und nun? Haben wir durch Covid-19 und seit zwei Monaten durch den Ukraine-Krieg eine neue Ära bekommen?

Richtig. Das durch die Pandemie und den Krieg entstandene Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage hat die Inflation aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Jenseits der unmittelbaren Auswirkungen dieser Ereignisse dürften allerdings strukturelle Veränderungen das Umfeld auch längerfristig ändern. Protektionismus, „Greenflation“ und Demografie waren schon länger Argumente für steigende Inflationsraten, bevor die beispiellosen monetären und fiskalischen Nachfrageimpulse als Reaktion auf Angebotsengpässe die Inflationsdynamik anheizten. Die jüngsten Ereignisse verstärken die Argumente, dass Deglobalisierung und die Energiewende auch in den kommenden Jahren zu höherer Inflation führen werden.

Wie stufen Sie das Risiko einer Stagnation, womöglich sogar einer langanhaltenden, ein?

Für das Wirtschaftswachstum deuten gewichtige Faktoren längerfristig auf eine gebremste Dynamik hin: Erstens wird die Deglobalisierung mit einer lokaleren Ausrichtung der Lieferketten und der Abbau der internationalen Arbeitsteilung in den kommenden Jahren eine wichtige Antriebskraft für das globale Wirtschaftswachstum drosseln. Insbesondere eine neue Blockbildung und die Umkehr der Integration Chinas in die Weltwirtschaft stellen große Risiken für den Welthandel dar. Daneben ist die ökologische Transformation zwar eine begrüßenswerte, unumkehrbare Entwicklung mit einem wertvollen ökologischen Ertrag – doch der messbare monetäre Ertrag vieler ESG-Investitionen ist oft geringer als die Rendite, die mit herkömmlichen Erweiterungsinvestitionen erzielt werden kann. Ähnlich verhält es sich mit den erforderlichen umfangreichen Investitionen in das Militär, die das Produktivitätswachstum der Volkswirtschaft kaum steigern.

Wie ausgeprägt werden diese Auswirkungen sein?

Das hängt maßgeblich von der Wirtschaftspolitik ab. Die Entscheidungsträger sollten heute zwar besser gewappnet sein, aber einige Parallelen zu den 70er Jahren sind frappierend. Man sollte sich daher nicht darauf verlassen, dass dieses Mal die richtigen Entscheidungen getroffen werden.

Welche Parallelen ziehen Sie zu den 70er Jahren, und welche Lehren ziehen Sie auch daraus?

In den 70er Jahren hat sich ähnlich wie heute rasch ein breiter politischer Konsens darüber gebildet, dass höhere Inflation schädlich ist. 1974 etwa erklärte US-Präsident Ford die Inflation zum „Staatsfeind Nummer 1“, als er sein Programm „Whip Inflation Now (WIN)“ einführte. Der damalige Fed-Vorsitzende Burns sprach sich auch vehement gegen Inflation aus, vertrat aber die Ansicht, dass der Inflationsdruck auf Faktoren zurückzuführen war, die außerhalb der Kontrolle der Fed lagen. Damals wurde die US-Geldpolitik durch Schätzungen der natürlichen Arbeitslosenquote fehlgeleitet, was zu einer zu expansiven Ausrichtung führte. Heutzutage legen die Zentralbanken ein großes Augenmerk auf Schätzungen des natürlichen Zinssatzes, die sich ebenfalls als „Irrlicht“ erweisen könnten. Heute ist die fiskalische Dominanz zwar weniger ausgeprägt als damals, doch gibt es weitere Parallelen. Der Preisdruck hatte bereits Mitte der 60er Jahre zugenommen, als die US-Regierung hohe Ausgaben für den Vietnamkrieg und Lyndon Johnson’s Great Society tätigte, bevor sich der Prozess dann im Zuge der beiden Ölpreisschocks beschleunigte.

Mit welchen Renditeentwicklungen sowohl bei den Bunds als auch bei den US-Staatsanleihen rechnen Sie in nächster Zeit?

Wir gehen davon aus, dass die zehnjährigen Bund-Renditen in der ersten Welle dieses Jahr auf knapp über 1% und längerfristig auf ein Niveau um 2% steigen werden. Der Anstieg der Anleiherenditen wird dabei vermutlich in Schüben erfolgen. Wenn die Inflation in den kommenden Monaten etwas abebbt und sich die Konjunkturaussichten eintrüben, dürfte der Renditeanstieg eine Pause ein­legen.

Sind damit alle Ursachen des Niedrigzinsumfeldes vom Tisch oder begleiten uns noch Aspekte, die weiter für niedrigere Zinsen, sprich Anleiherenditen sprechen?

Nicht alle Ursachen für das strukturelle Niedrigzinsumfeld sind plötzlich verschwunden. Man denke etwa nur an den Preisdruck durch neue Technologien oder weniger starke Gewerkschaften. Hinzu kommt, dass die Welt nicht sicherer geworden ist. Risikoarme Staatsanleihen dürften somit ihre Sicherheitsprämie bewahren. Ein begrenztes Angebot an Bunds und US-Treasuries dürfte damit in diversifizierten Portfolien weiterhin gesucht bleiben.

Und welchen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang etwa die öffentliche, also staatliche und die private Verschuldung in Bezug auf das Zinsniveau?

Die öffentliche und private Verschuldung ist heute wesentlich höher als etwa in den 70er Jahren. Der Makro-Effekt eines gegebenen Zinsanstiegs ist daher vermutlich größer, und ein deutlich höheres Zinsniveau könnte die Schuldentragfähigkeit einiger Emittenten infrage stellen.

Wie sieht es mit den Vermögensbewertungen und ihrem Einfluss auf die Aktienmärkte aus?

Ein signifikanter Anstieg der An­leiherenditen mit positiven Real­renditen könnte zu einem Risiko für die Aktien- und Immobilienmärkte werden, was wiederum die Konjunkturaussichten eintrüben könnte und vermutlich zu einem Umden­ken bei der Geldpolitik beitragen würde.

Bleiben uns denn die niedrigen Realrenditen erhalten?

Ich fürchte ja. Zwar werden die Realrenditen wohl auch größeren Schwankungen unterworfen sein und in den kommenden Monaten steigen, wenn die Zentralbanken die Zügel anziehen, um wieder „vor die Kurve“ zu kommen. Ich gehe jedoch nicht davon aus, dass der Euroraum auf absehbare Zeit den negativen Realrenditen entkommen wird, da die Geldpolitik im Durchschnitt zu locker bleibt.

Welche Prognosen geben Sie denn für die zehnjährigen US-Treasuries per Ende dieses Jahres und per Ende nächsten Jahres ab?

Am Ende dieses Jahres rechnen wir mit 3,3%, Ende 2023 mit 3,2%, wenn sich die Sorgen über eine harte Landung der US-Konjunktur vergrößern.

Und wie sehen Ihre diesbezüglichen Prognosen für die zehnjährigen Bunds aus?

Hier rechnen wir mit 1,1% am Jahresende und einem temporären Rückgang auf 0,8% Ende 2023.

Und wann erreichen wir wieder 6%, den fiktiven Kupon des Bund-Future?

Diese Niveaus dürften fiktiv bleiben.

Was muss passieren, damit die gesamte Bund-Kurve wieder ins Minus abkippt?

Die Wahrscheinlichkeit dafür ist ungleich höher. Eine Rezession in Europa oder den USA in Zeiten bereits rückläufiger Inflation oder begleitet von Finanzmarktturbulenzen könnte rasch zu einem Umdenken bei den Investoren führen. Insgesamt dürfte die Volatilität deutlich höher bleiben, bei allerdings deutlich höheren Nominalrenditen als in den vergangenen Jahren.

Wie definieren Sie denn nun Niedrigrendite-Umfeld?

In den kommenden Jahren rechnen wir grob mit einem Renditeniveau bei zehnjährigen Bunds zwischen 0% und 2%. Inwiefern das noch unter dem Begriff eines strukturellen Niedrigzinsumfelds fällt, ist eine Frage der Perspektive oder der Definition. Wichtiger ist jedoch, dass das Umfeld sehr niedriger Realrenditen anhalten dürfte, wodurch der Anlagenotstand bei den Investoren auch in den kommenden Jahren wohl hoch bleiben dürfte.

Das Interview führte

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