Wall Street

Luft für US-Aktien wird dünner

An der Wall Street wird die Luft dünner. Zwar hoffen Analysten weiterhin auf deutlich steigende Unternehmensgewinne, rechnen aber auch mit zunehmenden Kursschwankungen.

Luft für US-Aktien wird dünner

Von Norbert Kuls, New York

Die Marktstrategen der Wall Street haben diesmal recht behalten. Am Anfang des Jahres hatten die Auguren eine anhaltende Rekordjagd am amerikanischen Aktienmarkt pro­gnostiziert – gestützt von einer raschen Verbreitung der Impfstoffe gegen das Coronavirus, einem großen Konjunkturpaket und einer entsprechenden Erholung der amerikanischen und globalen Wirtschaft. Die Einschätzung hat sich im ersten Halbjahr bewahrheitet. Der breit gefasste Aktienindex S&P500 liegt um mehr als 14% im Plus, der Dow Jones um etwas mehr als 12% und der technologielastige Nasdaq Composite um knapp 13%.

Die Rekordjagd lässt sich am besten an einer beeindruckenden Statistik illustrieren. In dieser Woche kamen erstmalig in der Geschichte der amerikanischen Aktienmärkte fünf Titel auf einen Börsenwert von mehr als 1 Bill. Dollar. Facebook stieß in diesen exklusiven Club vor, nachdem ein Bundesrichter die Anträge des Technologieunternehmens genehmigt hatte, zwei von der Bundesbehörde Federal Trade Commission und Justizministern von 48 Bundesstaaten angestrengte Kartellverfahren abzuweisen. Der Softwarekonzern Microsoft übertraf in der vergangenen Woche erstmalig die Marke von 2 Bill. Dollar. Angeführt wird das Quintett vom Elektronikkonzern Apple, der wie der Online-Einzelhändler Amazon in diesem Jahr dem Gesamtmarkt nach starken Kursgewinnen im Vorjahr etwas hinterherhinkt. Dafür haben aber die Kurse von Alphabet, der Muttergesellschaft des Internetkonzerns Google, wie auch von Facebook und Microsoft überdurchschnittlich stark zugelegt. Große Technologiewerte haben damit wieder die Führungsrolle unter Beweis gestellt, die sie bereits in den vergangenen Jahren im Aktienmarkt gespielt haben.

Goldman Sachs an der Spitze

Weitere Triebfedern des Aktienmarktes waren Energiewerte wie ExxonMobil oder der Dow-Wert Chevron, die von den aufgrund der Konjunkturerholung gestiegenen Ölpreisen profitierten. In der Führungsgruppe befanden sich schließlich auch die Finanzwerte. Banken profitierten vom robusten Investment Banking und ebenfalls von der Aussicht auf kräftiges Wirtschaftswachstum. In den vergangenen Quartalen hatten die Banken bereits große Teile der während der Corona-Pandemie gebildeten Reserven für ausfallgefährdete Kredite aufgelöst. Das Branchenbarometer KBW Bank Index ist in der ersten Jahreshälfte um fast 28% geklettert – rund doppelt so stark wie der S&P500. Entsprechend ist die Investmentbank Goldman Sachs Spitzenreiter im Dow Jones, gefolgt vom Kreditkartenkonzern American Express. Auch das größte amerikanischen Kreditinstitut J.P. Morgan Chase befindet sich in der Spitzengruppe des Dow.

Nach dem positiven Trend in der ersten Jahreshälfte fragen sich Analysten vor der anstehenden Bilanzsaison für das zweite Quartal, ob es weiteres Aufwärtspotenzial gibt. „Wir sehen die Rekordstände nicht als Hindernis für weitere Kursgewinne“, sagt Mark Haefele, Chefanleger im Global Wealth Management bei der Schweizer Bank UBS. Gleichwohl rät er Anlegern, sich auf eine „gewisse Volatilität“ einzustellen, da „viele gute Nachrichten bereits in den Märkten eingepreist“ seien. Anleger achten auch auf die Notenbank Fed, die mit ihrer Nullzinspolitik ein wichtiger Stützungsfaktor des Marktes ist. Der Case-Shiller-Hauspreisindex für April war aufs Jahr gerechnet um 14,6% gegenüber dem Vorjahr gestiegen, so stark wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr. Marktakteure achten auf die Entwicklung der Häuserpreise, weil ein zu starker Anstieg die Federal Reserve dazu veranlassen könnte, die Zinsen anzuheben. Die Fed debattiert die Reduzierung des Kaufprogramms für Hypothekenanleihen, das derzeit bei 40 Mrd. Dollar pro Monat liegt. Diese Käufe halten die Renditen für Hypothekenanleihen niedrig, was die Nachfrage nach Immobilien stimuliert.

Prognosen angehoben

Einige Strategen haben kürzlich ihre Prognosen angehoben, rechnen insgesamt aber nicht mehr mit deutlichen Kursaufschlägen bis zum Jahresultimo. Lori Calvasina, die Strategin von RBC Capital Markets, unterstellt für den S&P500 ein Kursziel von 4325 Punkten am Jahresende – was auf dem aktuellen Niveau nur noch einem Kurspotenzial von knapp 1% gleichkommen würde. Calvasina rechnet für den Verlauf des Jahres aber auch mit erhöhten Schwankungen und zwischenzeitlichen Rückschlägen. Den grundsätzlichen Optimismus erklärt die Strategin mit den besseren Aussichten für die Unternehmensgewinne in diesem Jahr. Gegenwind könnte allerdings von der erwarteten Erhöhung der Unternehmenssteuern kommen.

Für das jetzt zu Ende gegangene zweite Quartal rechnen Analysten nach Angaben des Informationsdienstes Factset für die S&P-500-Konzerne mit einem Gewinnwachstum um 63% gegenüber dem Vorjahr – das allerdings von den Folgen der Pandemie geprägt war. Die ohnehin positiven Aussichten verbessern sich zunehmend. Die Prognosen für die Unternehmensgewinne sind im Vergleich zum Beginn des Quartals um mehr als 10 Prozentpunkte gestiegen. Für das Gesamtjahr 2021 kalkulieren Analysten mit einem Gewinnwachstum um 35% gegenüber dem Vorjahr. Gestützt wird die allgemeine Gewinnentwicklung von den gleichen konjunktursensiblen Segmenten, die auch den Aktienmarkt beflügeln: Energiewerte, Grundstoffhersteller, Finanztitel und zyklische Konsumwerte. Zu den größten Optimisten zählt Jonathan Golub. Der Stratege der Credit Suisse prognostiziert ein Kursziel von 4600 Punkten für den S&P 500 – ein potenzieller Anstieg um 7% bis zum Jahresende.