Vincent Mortier, Amundi

„Pandemie Katalysator für Reformen“

Auch nach den jüngst erreichten Kurshöhen sind Investoren nach Einschätzung von Vincent Mortier gut beraten, sich mit dem indischen Aktienmarkt auseinanderzusetzen.

„Pandemie Katalysator für Reformen“

Christopher Kalbhenn.

Herr Mortier, Indien hat die USA in diesem Jahr als Epizentrum der Pandemie abgelöst. Warum befindet sich der Aktienmarkt des Landes dennoch auf Rekordfahrt?

Die Investoren schauen über die Covid-Krise hinaus. Damit ziehen sie ihre Schlüsse aus dem, was in den USA und in Europa geschehen ist. Die Reaktion auf die Krise war im Vergleich zu anderen Regionen etwas verspätet. Aber mittlerweile kommt da auch in Indien Zug rein. Hinzu kommen die Stützungsmaßnahmen der Regierung für die Wirtschaft. Das sorgt für Vertrauen.

Die Regierung Modi steht für durchgreifende Reformen, die ebenfalls für das Investorenvertrauen wichtig sind. Wie wirkt sich die Pandemie hier aus?

Die Pandemie ist ein Katalysator für einige der Reformen. Indiens Regierung hat, was die Reformen betrifft, überhaupt nicht aufgegeben. Sie könnte sogar weitergehen als bislang geplant, was auch für die Infrastrukturinvestitionen gilt. Die indischen Behörden sind hier sehr motiviert, und, was aus amerikanischer und europäischer Sicht vielleicht etwas seltsam anmutet, die Pandemie gibt ihnen auch mehr Macht, Reformen durchzusetzen. Die Wirtschaft erhält im Übrigen auch seitens der Zentralbank Unterstützung, was ebenfalls der Investorenstimmung zugutekommt. Dass es keine Verkäufe internationaler Anleger in indischen Aktien und Anleihen gegeben hat, zeigt, dass die Glaubwürdigkeit der Behörden intakt ist. Langfristig orientierte Investoren sind zuletzt eingestiegen.

Was macht Indien denn generell aus Sicht von Investoren interessant?

Indien ist zu anderen Märkten entkoppelt, etwa zu den USA, China und Europa. Damit bietet das Land gute Diversifizierungsmöglichkeiten. Global anlegende Investoren, die einen Blick auf Wachstum haben, sollten Indien auf dem Radar haben. Wir beobachten auch, dass immer mehr Investoren dazu übergehen, die globalen Emerging Markets nicht mehr als ein Ganzes zu betrachten. Das ist ein Konzept der Vergangenheit. Länder wie Brasilien, die Türkei und China haben wenig gemein. Die Allokation erfolgt nicht mehr global, sondern selektiv von Land zu Land. Indien ist ein sehr großes Land. Veränderungen geschehen dort lang­samer als anderswo. Sie geschehen jedoch langsam, aber gewiss.

Welche weiteren Attraktionen würden Sie hervorheben?

Wir haben mittelfristig positive Erwartungen für Indien, und zwar aus Gründen, die langfristiger Natur sind. Da wäre erstens die stark wachsende Mittelschicht, der jetzt 30% der indischen Bevölkerung zuzurechnen sind. Es gibt erhebliche Fortschritte in der Entwicklung der Finanzmärkte. Indien hat ferner eine Verschiebung weg vom informellen zum formellen Sektor der Wirtschaft vollzogen. Die Wirtschaft ist jetzt mehrheitlich formell, wozu auch die Digitalisierung beigetragen hat. Hinzu kommen immense Investitionen in die Infrastruktur. Es gibt mehr als 7500 Projekte zur Modernisierung der Infrastruktur.

Wo liegen die Schwerpunkte dieser Investitionen? Um welche Summen geht es da?

Zu den Schwerpunkten zählen Telekommunikation, Straßen, öffent­licher Personenverkehr und Müllentsorgung. Geplant ist ein Volumen von 1,5 Bill. Dollar für einen Zeitraum von fünf Jahren. Das entspricht in etwa dem, was die Vereinigten Staaten voraussichtlich in den kommenden zehn Jahren ausgeben werden.

Was bedeutet die Rivalität zwischen China und den USA für Indien?

Indien spielt eine große Rolle. Das Land versucht, sich neutral zu halten, und befindet sich in einer interessanten Position. Es könnte sich zu einer einflussreichen regionalen Macht entwickeln.

Wie sind die Investoren am indischen Aktienmarkt positioniert?

Die internationalen Anleger sind in dem Markt unterinvestiert. Wir denken, dass sich das ändern wird.

Welche Bereiche des Marktes halten Sie derzeit für interessant?

Taktisch sind wir positiv eingestellt für alles, was zyklisch ist, das heißt für alle Segmente, die von der Wiederbelebung der Wirtschaft profitieren. Längerfristig gesehen bieten etwa der IT- und der E-Commerce-Sektor interessante Unternehmen, um dem „Work from Home“-Thema in Indien ausgesetzt zu sein, insbesondere wenn die dritte Welle mit der Delta-Variante plus entsteht. Einige von ihnen sind weniger teuer als in den Vereinigten Staaten.

Wie sehen Ihre strategischen Präferenzen aus?

Aus strategischer Sicht bevorzugen wir Large Caps gegenüber Small Caps, auch wenn wir anerkennen, dass in Letzteren mehr aktueller Wert vorhanden ist. Wir besitzen immer noch teure Banken aufgrund ihrer Assetqualität. Im Prinzip ist auch alles, was mit Infrastruktur und Industrie zu tun hat, aufgrund des Capex-Pushs der Regierung interessant. Wir haben auch einige positive Erwartungen für den Gesundheitssektor nach der Pandemie, basierend auf der relativen Ertragsstärke, der Wachstumssichtbarkeit und dem Nachlassen des Preisdrucks in den USA angesichts des starken Engagements der indischen Generikaunternehmen. Bei den Kommunikationsdiensten glauben wir, dass der Sektor nach einer extrem schmerzhaften Phase die Kurve kriegt, und erwarten, dass der durchschnittliche Umsatz pro Nutzer zu steigen be­ginnt, was zu einem signifikanten Gewinnanstieg führen wird.

Ein häufig zu hörendes Argu­ment für Indien ist die demografische Struktur. Was sagen Sie dazu?

Die Lage ist deutlich besser als zum Beispiel in China. Allerdings hat sie begonnen, sich zu verschlechtern. Die Geburtenrate ist zurückgegangen. Die langfristige Projektion fällt nicht mehr so positiv aus wie früher. Aber dennoch gilt: Die Struktur ist besser als in allen anderen wichtigen Regionen. Der aktive Teil der Bevölkerung, also Menschen im Alter von 15 bis 54 Jahren, steigt in Indien, während er in China sogar zurückgeht und in den USA stabil ist.

Das Interview führte