Geld oder Brief

Wenn der Schuh drückt

Die Aktie von Dr. Martens sieht nach einem Schnäppchen aus. Doch es gibt gute Gründe dafür, dass sich der Kurs weit vom Ausgabepreis beim Börsengang entfernt hat.

Wenn der Schuh drückt

Von Andreas Hippin, London

Die Aktie der britischen Schuhmarke Dr. Martens ist im Januar abgestürzt, nachdem die FTSE-250-Gesellschaft auf dem US-Markt mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, und hat seitdem weiter an Wert verloren. Chief Executive Officer Kenny Wilson sprach von „signifikanten operativen Problemen“ im neuen Vertriebszentrum in Los Angeles. Sie hätten zu einem Stau geführt, der den Durchsatz wesentlich beeinträchtige. Zudem sei das Geschäft im Direktvertrieb an amerikanische Endverbraucher wegen der warmen Witterung schwächer als erwartet ausgefallen. Der „gute“ Dezember habe die Schwäche im Oktober und November nicht ausgleichen können. Der Stau im Vertriebszentrum werde das operative Ergebnis (Ebitda) im noch bis Ende März laufenden Geschäftsjahr um 16 Mill. bis 25 Mill. Pfund drücken, heißt es in einer Pflichtveröffentlichung des Unternehmens. Das Ausmaß der Ergebnisminderung hänge davon ab, wie schnell sich die Probleme lösen ließen. Man erwarte ein Ebitda zwischen 250 Mill. und 260 Mill. Pfund. Auch für das nächste Geschäftsjahr werde noch mit negativen Auswirkungen gerechnet. Jedoch sollte sich die Lage im ersten Halbjahr (30. September) normalisieren.

Die USA sind der wichtigste Markt für Dr. Martens. Was sich in Kalifornien abspielte, zeugte nicht gerade von operativer Exzellenz: Lagerbestände aus Portland waren zu schnell nach Los Angeles verlegt worden. Zudem hatte das Unternehmen US-Großhändlern vorschnell Platz in seinem neuen Vertriebszentrum angeboten. Gleichze itig verbesserten sich die Zeiten, in denen Produkte aus den Fabriken im Vertriebszentrum ankamen. Inzwischen seien die erfahrensten Beschaffungsexperten der Firma in Los Angeles, um die Probleme zu lösen, teilte Dr. Martens mit. Man habe vorübergehend drei Lagerhäuser in der Nähe des Vertriebszentrums angemietet und werde im Dreischichtbetrieb arbeiten.

Alles herausgeholt

Als der Finanzinvestor Permira die Kultmarke vor zwei Jahren an die London Stock Exchange brachte, lag der Ausgabepreis bei 370 Pence. Das entsprach einem Börsenwert von 3,7 Mrd. Pfund. Goldman Sachs und Morgan Stanley hatten die höchstmögliche Bewertung für ihren Kunden herausgeholt. Sie konnten auf das Wachstum der Vorjahre verweisen, das durch die Eröffnung zahlreicher Niederlassungen und die Expansion in die Vereinigten Staaten und Japan geprägt war. Wie die Analysten der HSBC, die ebenfalls beim Initial Public Offering mit von der Partie war, bei Aufnahme der Berichterstattung ausführten, hatte das Umsatzwachstum in den Jahren 2018 bis 2020 im Schnitt bei 39 % gelegen. Das operative Ergebnis sei in diesem Zeitraum im Schnitt sogar um 81 % gestiegen. Die Frage, ob sich das so fortsetzen lässt, stellte sich im damaligen Umfeld eigentlich nicht. Aber Dr. Martens hatte ermitteln lassen, dass das Unternehmen potenziell auf 170 Millionen Kunden weltweit kommen könne, als es gerade einmal 16 Millionen waren. Der Direktvertrieb über die Website des Unternehmens sollte einen Wachstumsschub liefern. Zur Erinnerung: Auch Made.com und Deliveroo schafften 2021 den Sprung aufs Londoner Parkett. Dagegen verströmte der Schuhhersteller Bodenständigkeit. Gekauft hatte ihn die Private-Equity-Gesellschaft 2014 für gerade einmal 300 Mill. Pfund. Der Kurs stieg zunächst auf mehr als 500 Pence, um dann immer weiter abzurutschen. Die Private-Equity-Gesellschaft sitzt immer noch auf 36 % an Dr. Martens. Die aktuelle Kursentwicklung sorgt dafür, dass sie wohl noch eine Weile an Bord bleiben wird. Allerdings hat ihr der Börsengang bereits 1 Mrd. Pfund gebracht, eine weitere Platzierung 257 Mill. Pfund.

Von den neun Analysteneinstufungen, die von Bloomberg zusammengetragen wurden, lauten sechs auf „Kaufen“, drei auf „Halten“. Das Kursziel lag im Schnitt bei 207 Pence. Zuletzt kostete die Aktie in London 132 Pence. Es ist schwer, eine Gruppe von Vergleichsunternehmen zu bilden, um die Performance zu analysieren. Schließlich tritt Dr. Martens als Marke für Rebellen auf, was man von Adidas, Nike, Converse oder Timberland nicht behaupten kann. Bemerkenswert ist auch die große Treue der Stammkundschaft, die sich offenbar nicht von kurzlebigen Trends leiten lässt. Liest man sich die Bewertungen bei Trustpilot durch, fragt man sich allerdings, ob Qualität und Kundendienst nicht zu sehr vernachlässigt wurden, als das ehemalige Familienunternehmen von Private Equity auf Rendite getrimmt wurde.

Eigentlich handelte es sich bei den Schuhen von Dr. Martens um Arbeitsschuhe für Briefträger, Industriearbeiter und Polizisten. Für drei Pfund war ein Paar zu haben. Später wurde der 1460-Boot von Angehörigen diverser Jugendkulturen – Skinheads, Punks und Goths – getragen. Pete Townsend von „The Who“ war einer der ersten Prominenten, die sich damit zeigten. Der breite Durchbruch blieb jedoch aus. Doch ab der Jahrtausendwende war es plötzlich in, „Docs“ zu tragen. Ob David Beckham, Miley Cyrus oder Lady Gaga: Alle hatten ein Paar davon. Der 1460-Boot schlägt mittlerweile mit 159 Pfund pro Paar zu Buche. Will man einen Schuh, der nicht aus Weltmarktfabriken in Asien stammt, sondern aus britischer Produktion, werden 209 Pfund für die „Made in England“-Kollektion fällig. Sie wird noch in der alten Fabrik in der Cobbs Lane in Wollaston, Northampton­shire, auf traditionelle Weise hergestellt – mit Quilon, dem ganz speziellen Leder, das dafür verwendet wurde. Sie steht allerdings der IPO-Studie der HSBC zufolge nur für 1% der Gesamtproduktion. Der Rest stammt aus Vietnam und China, gefolgt von Thailand, Laos und Bangladesch.

Das bereits hohe Preisniveau begrenzt angesichts steigender Lebenshaltungskosten die Möglichkeiten, den Umsatz durch Preiserhöhungen zu steigern. Die Analysten von Peel Hunt verwiesen jedoch im vergangenen Jahr auf die Chancen, die sich aus der bislang niedrigen weltweiten Verbreitung der Schuhe ergeben. Im Vereinigten Königreich kämen auf 1 000 Einwohner 32 Paar Docs, in den Vereinigten Staaten lediglich 17, in Deutschland 15. Für Frankreich, Italien und Japan lägen die Werte im einstelligen Bereich. Allerdings sollte man nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Welt dem britischen Geschmack folgen wird. Und wer weiß, vielleicht tritt ja ein neuer Anbieter auf den Plan, der den Anspruch, anders zu sein, besser verkörpern kann.

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