Indischer Aktienmarkt

Indien trotz Adani ein attraktives Anlageziel

Die Adani-Affäre und hohe Bewertungen haben den indischen Aktienmarkt 2023 ins Minus gedrückt. Langfristig bleibt das Land jedoch ein attraktives Anlageziel.

Indien trotz Adani ein attraktives Anlageziel

Es wirkt wie eine böse Vorahnung­. In Indien man­gele es einigen der größten und bekanntesten, in Ak­tienindizes enthaltenen Unternehmen an den grundlegenden Funktionen angemessener Corporate-Governance-Strukturen, heißt es in einer Anfang Dezember 2022 verfassten Studie des Beratungsunternehmens Quantum Advisors India. Einige von ihnen hätten sich jahrelang auf eine Vetternwirtschaft gestützt, bei der Aufträge und Genehmigungen ausschließlich aufgrund von Regierungsbeziehungen erhalten würden. Zudem stützten sie sich auf komplexe Unternehmensstrukturen und Rechnungslegungspraktiken, die ihre Gewinne, und damit ihre Aktienkurse, eine Zeit lang hochtreiben können. „Hinter diesen Strukturen verbergen sich signifikante ökonomische Risiken.“

Wenige Wochen später platzte die Bombe. Am 24. Januar veröffentlichte der New Yorker Short Seller Hindenburg Research einen Bericht, in dem er der Adani Group vorwarf, mittels Scheinfirmen jahrzehntelang Aktienmanipulation und Bilanzfälschung betrieben zu haben. Die Börsenbewertung von sieben Unternehmen der Gruppe sei in drei Jahren im Durchschnitt um mehr als 800 % gestiegen, obwohl sie in erheblichem Umfang Schulden aufgenommen und dafür Aktien zu aufgeblähten Kursen als Sicherheiten hinterlegt hätten. Aufgrund der Besetzung von Führungspositionen mit Mitgliedern der Adani-Familie gebe es kaum unabhängige Kontrolle. Die von der Gruppe zurückgewiesenen Vorwürfe lösten ein Beben am indischen Aktienmarkt aus, die Bewertungen der börsennotierten Unternehmen der Gruppe sackten in der Spitze um mehr als 150 Mrd. Dollar ab.

Deutliche Outperformance

Dass die Vorwürfe gegen Adani, deren Aufklärung noch aussteht, seit Wochen die Schlagzeilen über den indischen Aktienmarkt bestimmen, hat diesem alles andere als geholfen. Allerdings sind die Turbulenzen um die Gruppe nicht der einzige Grund dafür, dass er zu den wenigen Märkten zählt, die in diesem Jahr im Minus liegen. Der Index BSE Sensex wies schon vor dem Hindenburg-Bericht ein leichtes Minus auf. Seine Underperformance ist vor allem die Folge seiner vorangegangenen jahrelangen deutlichen Outperformance, die den Index bis auf ein Anfang Dezember erreichtes Rekordhoch von 63583 (aktueller Stand 57556) Punkte getrieben hat, im Vergleich zu den 2009 in der Finanzkrise erreichten Tiefen etwas oberhalb von 8000 Zählern nahezu eine Verachtfachung. Damit sind die Bewertungen auf ein Niveau gestiegen, das in der Investmentbranche nun für Zurückhaltung sorgt. So verwies die UBS im Januar – vor dem Hindenburg-Bericht – darauf, dass der Markt einen Bewertungsaufschlag auf die Emerging Markets von 90% aufweise, und prognostizierte, dass er in diesem Jahr auf der Stelle treten wird. Auch Schroders bereiten die Bewertungen Sorgen. Mit einem Kurs-Buchwert-Verhältnis von 3,1 und einem Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der Schätzungen für das im März 2023 endende Finanzjahr von 21 handle der Index Nifty 50 oberhalb seiner langfristigen durchschnittlichen Bewertungen, so der Assetmanager im zurückliegenden Dezember.

Hohes Wachstum

Unabhängig von der Adani-Affäre und der aktuellen Notwendigkeit einer Bewertungsnormalisierung ist der langfristige „Investment Case“ des indischen Aktienmarktes jedoch intakt. Denn ihm spielt eine Vielzahl struktureller Faktoren und aktueller Entwicklungen in die Hände, die sich auch in einem kontinuierlich überdurchschnittlichen­ Wirtschaftswachstum auf dem Subkontinent widerspiegeln. Laut dem IWF hat sich das Wachstum des Landes 2022 mit 6,8% nach 8,7% auf hohem Niveau relativ stabil gehalten. Für 2023 und 2024 prognostiziert der IWF im internationalen Vergleich weit überdurchschnittliche Wachstumsraten von 6,1% und 6,8%. Bis 2030 wird das Land, derzeit auf Rang 5, Schätzungen zufolge zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Das sehr komplexe Land mit seinen rund 1,4 Milliarden Einwohnern zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es stark binnenwirtschaftlich getrieben und damit relativ immun gegen Schwankungen der globalen Konjunktur ist.

Zu seinem überdurchschnittlichen Wachstum trägt nicht zuletzt die gerade im Vergleich zu China vorteilhafte demografische Struktur bei. Die Bevölkerung ist sehr jung und wächst, was zusammen mit stark steigenden Pro-Kopf-Einkommen den Konsum antreibt. Indien habe kürzlich die entscheidende Schwelle beim Pro-Kopf-Einkommen von 2200 Dollar überschritten, so der Assetmanager Abrdn. Die Schwelle sei häufig der Ausgangspunkt für die Beschleunigung des Wachstums einer Volkswirtschaft. Der Internationale Währungsfonds schätze, dass das Pro-Kopf-Einkommen bis zum Jahr 2027 auf 3769 Dollar steigen werde, was die Verbraucherausgaben antreiben werde. Die große und wachsende Mittelschicht treibe die Konsumausgaben an, so auch Robeco. Die Zahl der zur Mittelschicht zählenden Menschen, die über Einkommen verfügen, um Ausgaben für ein immer größer werdendes Spektrum an Konsumgütern zu tätigen, liege bei 350 Millionen und sei größer als die Bevölkerung der Europäischen Union.

Vielfältige weitere Impulse treiben das überdurchschnittliche Wachstum an. So investiert die Regierung immense Beträge in den Ausbau der Infrastruktur. Der Bedarf ist enorm und wird durch die zunehmende Verstädterung zusätzlich angeheizt. Treiber sind darüber hinaus vielfältige Reform- und Modernisierungsbemühungen, die durch die Pandemie beschleunigte Digitalisierung, ein starkes Wachstum der Zahl sehr gut ausgebildeter Menschen etc. Hinzu kommt aktuell die Umorientierung vieler Unternehmen, was Lieferketten und Produktionsstandorte be­trifft. Indien zählt wegen der Größe seiner Volkswirtschaft und eben des großen Angebots gut ausgebildeten Personals zu den bevorzugten Alternativen für nun etwas kritischer betrachtete Länder wie insbesondere China. Das treibt die ausländischen Direktinvestitionen an.

Auch die Struktur des Aktienmarktes ist ein Vorteil Indiens. Er weist eine relativ geringe Korrelation zu den globalen Aktienmärkten auf, was Diversifizierungsmöglichkeiten schafft. Hinzu kommt eine relativ gute Branchenstruktur. Indien sei vermutlich der diversifizierteste Schwellenländeraktienmarkt, was die Zahl der Sektoren betreffe, die zur Gewinnentwicklung beitragen, so Schroders. Diese hätten sich während der Pandemie als vergleichsweise immun erwiesen.

Aktives Management gefragt

Allen Vorteilen zum Trotz darf der indische Aktienmarkt jedoch nicht unkritisch betrachtet werden. Anleger aus Industrieländern müssen sich etwa des Währungsrisikos bewusst sein, das Rendite kosten kann, auch wenn die Aussicht auf ein Auslaufen der Dollar-Stärke diesbezüglich in nächster Zeit für Entlastung sorgen könnte. In jedem Fall ist bei indischen Aktien auf guter lokaler Expertise basierendes aktives Management gefragt. Das unterstreicht nicht zuletzt auch der Fall Adani. Während institutionelle Anleger in den Werten unterinvestiert gewesen seien, hätten Adani vor dem Hindenburg-Bericht eine Gewichtung von 6% im MSCI India, von 1,6% im Nifty 50 und von 4,6% im BSE Sensex gehabt, so Quantum Advisors India, die be­tont, wie wichtig es ist, auf ESG-Risiken zu achten und dabei in Indien insbesondere das „G“ zu fokussieren.

Zu den Assetmanagern, die das tun, zählt Abrdn. Indien stehe wegen der Auswirkungen der Adani-Affäre im Zentrum der Aufmerksamkeit. „Dies ist genau das, was wir zu vermeiden bestrebt sind“, so der Assetmanager, der erklärt, auf Qualität und ESG fokussiert zu sein, und darauf hinweist, dass die Vorwürfe gegen die Gruppe schon vor dem Hindenburg-Bericht bekannt waren. „Die Aktienkursmanipulationsvorwürfe, der geringe Streubesitz und Adanis Nutzung von Offshore-Unternehmen sind für uns nichts Neues.“ Abrdn habe stets erhebliche Vorbehalte bezüglich der Transparenz, Transaktionen und der Rechnungs­legungspraktiken einer derart un­durchsichtigen, komplexen, hoch verschuldeten und politisch vernetzten Gruppe gehabt. Daher habe Abrdn nie Unternehmen der Adani-Gruppe in ihren Portfolien gehalten. Auch Raiffeisen Capital Management (RCM) erklärte, weder überrascht noch investiert gewesen zu sein. „Für viele kamen die Betrugsanschuldigungen an sich nicht überraschend. Auch unser Emerging-Markets-Ak­tienteam hat Investments in die Gruppe konsequent vermieden.“

Etliche Marktteilnehmer hätten die Hoffnung, dass diese Ereignisse zu einem großen Aufräumen seitens der Börsenaufsicht und der Regulierungsbehörden führen, so RCM weiter. „Die Adani-Gruppe dürfte zwar der größte, aber bei weitem nicht der einzige Fall dieser Art sein.“ Zugleich gebe es aber auch unzählige Verquickungen vieler Unternehmen in die höchsten Politikerkreise, so dass abzuwarten bleibe, ob und inwieweit es wirklich zu durchgreifenden Veränderungen kommt. Der Adani-Gruppe etwa würden enge Verbindungen zur Regierung von Premierminister Modi nachgesagt.

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