Ukraine-Krieg

Putins Teilmobilmachung ruiniert die Wirtschaft

Wo Sanktionen der Wirtschaft nicht schaden konnten, wird Putin selbst destruktiv aktiv. Mit der Mobilmachung entzieht er ihr Millionen Arbeitskräfte. Und das in einer Phase, in der der drastische Geburtenknick der 1990er Jahre einschlägt.

Putins Teilmobilmachung ruiniert die Wirtschaft

Von Eduard Steiner, Wien

Zweieinhalb Wochen nach der überraschend ausgerufenen Teilmobilmachung fehlt in Russland zwar nach wie vor eine offizielle Zahl derer, die das Land fluchtartig verlassen haben. Diverse Schätzungen aber ergeben immerhin eine Ahnung vom Ausmaß des neuen Exodus. So berichtete das Magazin „Forbes“ unter Verweis auf eine Quelle in der Präsidentenadministration, dass 700000 Menschen die Landesgrenze überquert hätten – allerdings inklusive Touristen. Die offiziellen Daten aus Kasachstan, Georgien, Finnland und anderen begehrten Zufluchtstaaten ergeben an die 400000. Nicht enthalten sind allerdings die Zahlen aus der Türkei und Armenien, zwei der populärsten Zielländer seit Beginn des Ukraine-Krieges. Eine halbe Million scheint also das Minimum zu sein.

Die Russen flüchten, seit Putin am 21. September die Teilmobilmachung von 300000 Reservisten verordnet hat, um nach Niederlagen der russischen Armee in der Ukraine die besetzten Gebiete zu halten. Vor allem viele jener jungen Männer, die mit einer Einberufung rechnen müssen, suchen das Weite. Und während in Zielländern wie Georgien die Immigranten inzwischen auch für Unmut sorgen, zerbrechen sich Unternehmen und Ökonomen in Russland selbst den Kopf darüber, wie sehr die vielschichtigen Folgen der Teilmobilmachung der Wirtschaft nach den westlichen Sanktionen nun den Rest geben.

Börse zeigt den Unmut

Eine erste Vorahnung lieferte die russische Börse, die am Tag der Verordnung um etwa 11% absackte – so viel wie seit Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar nicht mehr. Ein Indikator für eine neue Ära der Unsicherheit und des Pessimismus. Die Börse ist das eine. Die Realwirtschaft das andere. Sie ist fortan überschattet von riesigen Verwerfungen gerade auf dem Arbeitsmarkt. „Es findet eine totale Destruktion statt“, sagte Andrej Movchan, russischstämmiger Chef der Investmentgesellschaft Movchan’s Group in London, in einem Interview. Die einen würden in den Krieg geschickt, die anderen sich verstecken oder weggehen, wiederum andere würden ihr Geld für Bestechung brauchen, um sich vielleicht vom Krieg freizukaufen, Firmenchefs müssten neue Mitarbeiter suchen, Logistik und Eisenbahn hätten dem Krieg zu dienen. Kurz: „Das ganze Land beschäftigt sich mit der Teilmobilmachung und nicht mehr mit der Arbeit.“

Im Detail sehen Ökonomen den Ausfall der 300000 Reservisten, vorwiegend junge Männer, aus dem zivilen Arbeitsprozess noch nicht ganz so tragisch. Angesichts von gut 70 Millionen Erwerbstätigen im Land sei der Prozentsatz marginal, zumal die Reservisten mit einer versprochenen Entlohnung von bis zu 240000 Rubel ja auch ein Wirtschaftsfaktor blieben, so der Tenor. Die Agentur Bloomberg schätzt denn auch den diesbezüglichen Schaden auf nur zusätzliche 0,25% der Wirtschaftsleistung (BIP), die dieses Jahr laut Zentralbank um 4 bis 6% einbrechen dürfte.

Höherqualifizierte gehen

Folgenschwerer ist da schon die Massenemigration. Allein das Faktum, dass sie sich die Ausreise leisten können, zeige, dass höherqualifizierte Leute gehen, sagte Oleg Izchoki, russischstämmiger Ökonom an der University of California, in einem Statement. Die Mobilmachung sei ein weiterer Schlag gegen den Hightech-Sektor und die Wissenschaft. Und generell gegen die kleinen und mittelgroßen Unternehmen, die vorwiegend im Dienstleistungssektor tätig seien, wie Natalja Zubarewitsch, Ökonomin der Moskauer Staatsuniversität (MGU), erklärt. Insbesondere auf die IT-Sparte, in der Russland – übrigens wie die Ukraine – ausgesprochen viele Fachkräfte hat, blicken sogar die Entscheidungsträger in der Regierung besorgt. Denn wer nicht bei der ersten Emigrationswelle nach Kriegsbeginn – oft mit Hilfe abgewanderter westlicher Firmen – das Land verlassen hat, geht jetzt.

Abwärtsspirale in Gang

Natürlich wird die Wirtschaft nicht gleich implodieren. Dafür sorgt schon ihr Rückgrat, der Rohstoffsektor. Dieser wird von den jetzigen Ereignissen am wenigsten getroffen, weil die Großkonzerne ihre Mitarbeiter besser vor der Mobilmachung schützen oder den Wegfall einiger weniger leichter verkraften können. Aber bei kleineren Unternehmen treffe es neben dem Dienstleistungssektor durchaus auch die Produktion, so Movchan. Insgesamt werde eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt: Wegen sinkender Realeinkommen, fehlender Perspektiven und ausbleibender Investitionen würden die Menschen weniger konsumieren. „Der Planungshorizont ist bei den Menschen wie bei den Betrieben maximal eingeschränkt worden.“

Der neuen Emigrationswelle kommt eine Schlüsselrolle in der Abwärtsspirale zu. Da es sich um Hochqualifizierte handle, sei ihr Verlust für die Ökonomie höher zu bewerten als beim Durchschnitt, so Movchan. Rechne man hinzu, wie viele Arbeitsressourcen der Krieg im Inland binde, so würden der Wirtschaft 3 Millionen Menschen abhanden kommen: „Das kostet zusätzliche 5% Wirtschaftswachstum.“

Die neue Emigrationswelle könnte ungelegener nicht kommen. Sie dürfte am Ende nämlich nicht nur weit größer ausfallen als diejenige nach Kriegsbeginn, als Schätzungen zufolge 400000 junge Russen das Land verlassen haben. Sie trifft Russland überdies in einer Zeit, in der der Arbeitsmarkt ohnehin in seine schwierigste Phase seit dem Ende der Sowjetunion vor gut 30 Jahren eingetreten ist.

Der Grund: der Geburtenknick in der Armut und Brutalität der 1990er Jahre. Damals, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, stieg die Sterblichkeit rapide, während die Geburtenquote bis 1999 auf 1,2 Kinder pro Frau sank, nachdem sie zwölf Jahre zuvor bei 2,2 Kindern gelegen hatte. Heute sinkt sie als Folge davon wieder. Regierungsprognosen zufolge wird die Anzahl der Frauen im gebärfähigen Alter bis 2035 um weitere 28% zurückgehen.

Das macht den jetzigen Braindrain nur umso brisanter. Begonnen habe er schon im vergangenen Jahrzehnt, als 600000 bis 700000 vor allem Junge und Gebildete in den Westen emigrierten, wie Michail Denisenko, Direktor des Instituts für Demografie an der Moskauer Higher School of Economics (HSE), 2021 der Börsen-Zeitung erklärte.

Wissen geht verloren

In diesem Jahrzehnt werden es ungleich mehr sein. Einer neuen Studie der HSE zufolge gehen dem Arbeitsmarkt bis 2030 1,9 Millionen Menschen verloren (im Negativszenario 3 Millionen), vor allem Junge. Der Migrantenzustrom wird bis 2030 mit nur 250000 beziffert. Dabei hat die Studie die Folgen der Mobilmachung noch nicht berücksichtigt.

Das Land laufe Gefahr, am Ende des Krieges mit einem riesigen Verlust an Humankapital dazustehen, meint Ökonomin Zubarewitsch. Wissen wandere ab und werde nicht weitergegeben, sagt ihr Kollege Oleg Buklemischew von der Moskauer Staatsuniversität: Langfristig werde das „der schrecklichste Schlag für die russische Wirtschaft“.

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