Gemeinschaftsdiagnose

Rezessions­gefahr bei Gasliefer­stopp

Ohne russische Energie droht Deutschland in eine tiefe Rezession zu stürzen – und bekäme es mit einer noch höheren Inflation als ohnehin zu tun. In der Gemeinschaftsdiagnose finden die führenden Institute deutliche Worte.

Rezessions­gefahr bei Gasliefer­stopp

ba/wf Frankfurt/Berlin

Im Falle eines Embargos oder Lieferstopps russischer Energie droht der deutschen Wirtschaft die Rezession. Wie tief diese allerdings ausfällt, ist umstritten. Auch die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben sich in ihrer Frühjahrsprognose nun dieser Frage gewidmet. In der sogenannten Gemeinschaftsdiagnose, die mit „Von der Pandemie zur Energiekrise – Wirtschaft und Politik im Dauerstress“ betitelt ist, warnen sie vor einer scharfen Rezession und der höchsten Inflation seit Bestehen der Bundesrepublik.

Auch unter der Voraussetzung, dass das Kriegsgeschehen nicht weiter eskaliert, verzögere sich der Erholungsprozess nach der Corona-Delle. Im Basisszenario erwarten die Ökonomen, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 2,7% in diesem und um 3,1% im nächsten Jahr zulegt (siehe Tabelle). Im Herbstgutachten waren die Institute noch von Wachstumsraten von 4,8% und 1,9% ausgegangen. Das Vorkrisenniveau dürfte erst im dritten Quartal 2022 erreicht werden – ein halbes Jahr später als bislang prognostiziert.

Im Falle eines sofortigen Embargos für die Öl- und Gaslieferungen aus Russland in die EU hingegen dürfte das BIP in diesem Jahr nur um 1,9% zulegen, 2023 gar um 2,2% schrumpfen. „Bei einem Stopp der Gaslieferungen droht der deutschen Wirtschaft eine scharfe Rezession“, warnte Stefan Kooths, Vizepräsident und Konjunkturchef des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW). Die Institute beziffern den kumulierten Verlust an gesamtwirtschaftlicher Produktion auf 220 Mrd. Euro in den Jahren 2022 und 2023. Dies entspräche mehr als 6,5% der jährlichen Wirtschaftsleistung.

Auch die sogenannten Wirtschaftsweisen hatten sich in ihrem Prognose-Update mit den Auswirkungen eines Embargos seitens des Westens oder eines russischen Lieferstopps beschäftigt. Die diversen Studien hätten dabei Abschläge auf das Wirtschaftswachstum von 1,2 bis 2,2% ergeben, hatte der Wirtschaftsweise Volker Wieland bei der Vorstellung des Zahlenwerks erklärt. Ansätze, die von der Produktionsseite ausgingen, also die Substitution russischer Energie oder die Produktionsumstellung bzw. -aufgabe betrachten, ergäben ebenfalls Abschläge von 1,4% bis 2,2% des BIP. Diese könnten aber auch höher ausfallen, mahnte Wieland. Deutschland würde also bereits in diesem Jahr in eine tiefe Rezession stürzen.

Ihr konjunkturelles Alternativszenario einer EU ohne Energierohstoffe aus Russland stützen die an der Gemeinschaftsdiagnose beteiligten Institute – RWI, DIW, Ifo, IfW und IWH – auf die Auswertung verschiedener Studien zu diesem Thema. Der Mehrwert ihrer Analyse seien ein zeitlicher Verlauf und detailliertere Annahmen über die Friktionen in der Volkswirtschaft, die den Anpassungsprozess verlangsamen, erläuterte Oliver Holtemöller vom IWH. Die bekannteren Studien basierten auf Jahreswerten und beschrieben den Zustand nach Abschluss aller Anpassungsprozesse. Die Institute hingegen haben auch Effekte wie Preisanpassungen, Reaktionen auf dem Arbeitsmarkt oder Nachfrageeffekte im unterjährigen Verlauf betrachtet. Die Wissenschaftler haben demnach einen monatlichen Verlauf für die Gasverfügbarkeit abgeleitet, Indus­triezweige identifiziert, die von Knappheit als Erste betroffen wären, Effekte auf Lieferketten und Einkommen untersucht sowie die Rückwirkung von Einkommenseffekten auf die Gesamtwirtschaft. Dies führe in der Spitze „zu sehr viel prononcierteren negativen Effekten“ als in der langfristigen Betrachtung unter Ausnutzung aller Substitutionsmöglichkeiten, sagte Holtemöller.

Wegen der höheren Rohstoffpreise, insbesondere bei Gas, würde auch die Inflation deutlich höher ausfallen: Während die Wirtschaftsweisen mit einer Teuerungsrate von 7,5% bis knapp 9% rechnen, gehen die Institute von 7,3% in diesem Jahr aus. 2023 werden 5% erwartet.

Eckwerte der Prognosen für Deutschland 2022/2023
SVR1 Institute
 jeweils Basisszenario2019202020212022202320222023
BIP (preis-, nicht kalenderbereinigt)0,6−4,62,91,83,62,73,1
Arbeitslosenquote5,05,95,75,14,95,05,0
Inflationsrate1,40,53,16,13,46,12,8
Finanzierungssaldo des Staates21,5−4,3−3,7−2,6−2,2−1,4-0,7
Leistungsbilanzsaldo27,16,96,9− 5,66,1
1) Sachverständigenrat; 2) in % des BIPBörsen-Zeitung
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