Achim Truger, Wirtschaftsweiser

„Spielräume der Schuldenbremse nutzen“

Achim Truger, Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen und seit März 2019 Mitglied im Sachverständigenrat, warnt vor einer zu schnellen Konsolidierung. Reformbedarf sieht er bei der Schuldenbremse und den EU-Fiskalregeln.

„Spielräume der Schuldenbremse nutzen“

Alexandra Baude und Mark Schrörs.

Herr Professor Truger, bislang scheint die deutsche Wirtschaft vergleichsweise gut durch die Krise zu kommen, auch wenn die Erholung nicht so schnell vonstatten gehen wird wie zuletzt erhofft. Sehen Sie bereits langfristige Schäden durch den Lockdown, etwa auf dem Arbeitsmarkt oder mit Blick auf Unternehmensinsolvenzen?

Es ist klar, dass eine solche Krise nicht spurlos am Arbeitsmarkt und an den Unternehmen vorübergeht. Allerdings werden Unternehmen und Beschäftigte bislang recht erfolgreich durch staatliche Maßnahmen unterstützt. Wenn die Pandemie bald eingedämmt wird, wird es zu einer kräftigen Erholung kommen und auch die langfristigen Schäden werden relativ gering sein.

Die Bundesregierung hat ein beispielloses Konjunkturpaket ge­schnürt – war es genug und das Richtige?

Die Bundesregierung hat schnell und umfassend auf die Krise reagiert und bei neuen Entwicklungen oder Problemen immer wieder nachgesteuert. Insgesamt waren die Maßnahmen im Wesentlichen richtig und erfolgreich. Der wirtschaftliche Absturz wäre sonst viel stärker gewesen, und es hätte massive Firmenpleiten und Massenarbeitslosigkeit gegeben. Im Detail kann man Kritik üben – wie an der viel zu langsamen Auszahlung der Überbrückungshilfen.

War es genug auch mit Blick auf die langfristigen Folgen, die die Coronakrise für die Schul- und Erwerbsbiografie von Frauen, Geringverdienern, Auszubildenden und Jugendlichen hat?

Gerade in den Schulen lief vieles nicht rund. Weil sie für Digitalunterricht schlecht aufgestellt waren, leiden insbesondere die ohnehin benachteiligten Kinder und Jugendlichen. Sie drohen weiter zurückzufallen. Der Sachverständigenrat hat daher jüngst in einem Namensbeitrag massive Bildungsinvestitionen gefordert, um weitere Bildungsverluste zu vermeiden, ein Nachholen des Versäumten zu ermöglichen und die Benachteiligungen langfristig endlich konsequent anzugehen.

Die Kombination aus Dauerniedrigzinsen und alternder Gesellschaft stellt das Rentensystem vor eine Zerreißprobe. Ist es an der Zeit, die Riester-Rente zu be­erdigen und aus einem Volk der Sparer ein Volk der Aktionäre zu machen?

Wir brauchen vor allem ein Volk mit einer guten gesetzlichen Rentenversicherung. Dazu muss insbesondere die (Frauen-)Erwerbstätigkeit weiter gesteigert und die Einwanderung in die Arbeitsmärkte verbessert werden. Das und die Einbeziehung bislang nicht abgesicherter Selbständiger sowie langfristig der Beamten könnten für viele Jahrzehnte die gesetzliche Rente stärken. Die Riester-Rente ist in der Tat ein ziemlicher Flop.

Braucht es im Euroraum mehr fiskalische Unterstützung der Wirtschaft? Inwieweit kann das neue US-Konjunkturpaket ein Vorbild für die Euro-Politik sein?

Die EU hat in der Coronakrise ganz vieles besser als in der Eurokrise gemacht, weil sie die Staaten diesmal nicht zum Sparen gezwungen und den gemeinsamen Wiederaufbaufonds aufgelegt hat. Außerdem haben die EU-Staaten den USA eine viel bessere Arbeitslosenversicherung und die Kurzarbeit voraus. Das US-Konjunkturpaket fällt auch deshalb so groß aus, weil es dort an solchen Institutionen fehlt. Dennoch müsste die EU mehr tun.

Sollte der EU-Wiederaufbaufonds im Sinne einer Euro-Fiskalkapazität zu einer permanenten Einrichtung gemacht werden?

Das würde ich für sinnvoll halten. Eine gemeinsame Geldpolitik im Euroraum wird letztlich nur funktionieren, wenn es einen finanzpolitischen Counterpart gibt. Wenn man sich darauf politisch nicht einigen kann, brauchen die Mitgliedstaaten unbedingt mehr finanzpolitischen Spielraum zur Konjunkturstabilisierung. Ohne eine stärkere Rolle der Finanzpolitik ist die EZB langfristig überfordert und der Euro wird fragil bleiben.

Die EU verschuldet sich in der Coronakrise erstmals im großen Umfang gemeinschaftlich – ein Tabubruch, den viele Ökonomen und Bürger gerade hierzulande kritisch sehen. Setzt die EU nicht den Rückhalt in der Bevölkerung aufs Spiel, indem sie bei der Vergemeinschaftung von Schulden Fakten schafft?

Falls die Bürger es so kritisch sehen, dann weil man Angst vor einer gemeinsamen Verschuldung schürt. Würde man ihnen stattdessen erklären, dass die gemeinsame Verschuldung eine Versicherung gegen Krisen ist, ohne die der Euro letztlich fragil bleibt, würden sie es sicher ganz anders sehen.

Die Ausgabenpakete haben die Staatsschulden kräftig in die Höhe getrieben. Nun werden Rufe nach Steuererhöhungen, Corona-Soli und Vermögensabgabe zum Schuldenabbau laut. Ist es sinnvoll, den gerade einsetzenden Aufschwung auf diese Weise gleich wieder abzuwürgen?

Steuererhöhungen halte ich gegenwärtig für falsch, genauso wie Ausgabenkürzungen. Die Staatsverschuldung dürfte 2021 bei knapp 70% in Relation zur Wirtschaftsleistung liegen. Nach der Finanzkrise 2010 waren es mehr als 80%. Außerdem bekommt der Staat wegen der niedrigen Zinsen heute sogar Geld, wenn er sich verschuldet. Es gibt keinen Grund, hektische Konsolidierungsschritte zu ergreifen; wir können ziemlich bequem aus den Schulden herauswachsen.

Die Schuldenbremse steht seit einiger Zeit in der Diskussion – sollte sie wie geplant wieder in Kraft gesetzt, weiter ausgesetzt oder ganz abgeschafft werden?

Es war auf jeden Fall notwendig, die Schuldenbremse auszusetzen, sonst hätte der Staat Unternehmen und Beschäftigte nicht unterstützen können. Wenn man ohne hektische Konsolidierung aus den Schulden herauswachsen möchte, muss man wenigstens alle Spielräume der Schuldenbremse nutzen und sie 2022 erneut aussetzen. Zur Finanzierung von öffentlichen Zukunftsinvestitionen halte ich außerdem eine investitionsorientierte Re­form der Schuldenbremse für not­wendig.

Die Schuldenbremse hat der Bundesregierung erst den Spielraum zur Bewältigung der Coronakrise gegeben. Sollte nicht gerade Deutschland alles dafür tun, ein Vorbild in Sachen solider Haushaltsführung in der EU zu bleiben?

Mir gefällt diese schulmeisterliche Haltung gegenüber den anderen EU-Staaten nicht. In Deutschland konnten die öffentlichen Haushalte vor allem deshalb konsolidiert werden, weil es von 2010 bis 2019 einen unerwartet kräftigen Konjunkturaufschwung gegeben hat. Die deutsche Finanzpolitik musste dafür gar nicht viel tun. Andere Staaten wie Spanien, Portugal und auch Italien haben dagegen extrem harte Kürzungs- und Steuererhöhungspolitik betrieben – erfolglos, weil das die Konjunktur abwürgte.

Braucht es grundsätzlich eine neue Sichtweise auf staatliche Verschuldung? Was halten Sie vom Ansatz der Modern Monetary Theory, laut der Staatsverschuldung überhaupt kein Problem ist, solange sie von der Zentralbank finanziert wird?

Die Modern Monetary Theory hat früher und konsequenter als der Mainstream die Geldschöpfung analysiert. Für die praktische Politik schießen viele Vertreter etwas über das Ziel hinaus. Mir würde schon eine pragmatische Kosten-Nutzen-Analyse reichen: Wegen der Negativzinsen sind die Kosten im Vergleich zu früher gesunken, wegen der hohen Investitionsbedarfe ist der Nutzen gestiegen. Das spricht für etwas höhere Schulden zur Investitionsfinanzierung und Konjunkturstabilisierung.

Würde es ökonomisch Sinn machen, wenn die Europäische Zentralbank (EZB) den Euro-Staaten zumindest einen Teil der Schulden erlässt, die sich durch die Anleihekäufe auf der Notenbankbilanz angesammelt haben, wie es unlängst auch namhafte Ökonomen wie etwa Thomas Piketty gefordert haben?

Solange die Anleihen bei den Notenbanken liegen, sind die Euro-Staaten ja eigentlich bei sich selbst verschuldet, da sehe ich nicht, warum es unbedingt einen Schuldenerlass braucht. Viel wichtiger ist eine Reform der EU-Fiskalregeln, damit die Staaten wegen der hohen Schuldenstände nicht zu starker Konsolidierung gezwungen werden, was die Erholung abwürgen würde.

In den USA warnt selbst Ex-Finanzminister Lawrence Summers vor einer Überhitzung der Wirtschaft und einer stark anziehenden Inflation. Für wie groß halten Sie dieses Risiko?

Da bin ich eher bei Joseph Stiglitz, der das Konjunkturprogramm für absolut notwendig hält und meint, selbst wenn es ein Inflationsrisiko gäbe, so sei das Risiko viel größer, zu wenig für die Konjunktur zu tun. Genau dies, nach der Finanzkrise zu wenig getan zu haben, werfen heute viele Larry Summers als damaligem Finanzminister vor. Sollte die Konjunktur sehr stark anziehen, könnte die Federal Reserve immer noch einschreiten.

Unterschätzen die führenden Zentralbanken die Gefahr, dass der aktuelle Anstieg der Inflation nicht nur temporär ist, sondern der Beginn eines neuen Regimes mit wieder mehr Inflation?

Ich glaube nicht, dass die Inflationsrisiken unterschätzt werden. Im Moment deutet alles nur auf eine vorübergehend höhere Inflation, auch bedingt durch Sondereffekte, hin. Insbesondere im Euroraum sehe ich nicht, wie es angesichts der weiterhin hohen Arbeitslosigkeit zu einer lohngetriebenen dauerhaften Inflation kommen sollte.

Die Fragen stellten