EZB-Rat

Tauben in der Mehrheit – Falken am Drücker

Die anstehenden wegweisenden Entscheidungen des EZB-Rats richten den Fokus erneut auf die Mehrheitsverhältnisse in dem Gremium – und dabei geht es oft um das Verhältnis zwischen „Tauben“ und „Falken“.

Tauben in der Mehrheit – Falken am Drücker

Von Mark Schrörs, Frankfurt

Bundesbankpräsident Joachim Na­gel hält nicht viel von der gängigen wie beliebten Einteilung des EZB-Rats in „Tauben“ und „Falken“ – also in die Befürworter einer eher lockereren und einer eher strafferen Geldpolitik. „Ich stehe für klare Positionen, aber dieses Einsortieren in vermeintliche Gruppen finde ich schwierig. Wir arbeiten im EZB-Rat alle zusammen“, sagte er vor wenigen Wochen im „Spiegel“-Interview. Angesichts der anstehenden wegweisenden Entscheidungen richtet sich der Fokus derzeit aber wieder stark auf die Mehrheitsverhältnisse im EZB-Rat – und dabei geht es oft um das Verhältnis zwischen „Tauben“ und „Falken“.

Zwar ist die Einordnung in ein solches Schema stets sehr subjektiv und die Einschätzungen weichen teils stark voneinander ab. So wird etwa EZB-Präsidentin Christine Lagarde von vielen als klare „Taube“ bezeichnet, während andere sie als durchaus neutral einschätzen (weswegen sie in einer Auswertung von Veröffentlichungen zu diesem Thema durch die Börsen-Zeitung auf den Status „tendenziell Taube“ kommt; siehe Grafik). In der Gesamtheit solcher Einschätzungen ergibt sich aber für viele ein durchaus aussagekräftiges Bild.

Demnach stellen diejenigen Notenbanker, die klar oder eher dem „Tauben“-Lager zugeordnet werden, eine deutliche Mehrheit. Das war im Grunde seit jeher so und hat in den vergangenen Jahren eher noch zugenommen. Hinzu kommt, dass sehr einflussreiche Euro-Hüter eindeutig oder zumindest tendenziell zu diesem Lager gezählt werden. Das gilt etwa für EZB-Chefvolkswirt Philip Lane, aber auch für die Zentralbankchefs aus Frankreich und Italien, François Villeroy de Galhau und Ignazio Visco. EZB-Chefin Lagarde bezeichnet sich selbst als „weise Eule“, aber ihre Positionen schienen zumindest lange Zeit meist eher näher an jenen der „Tauben“ als der „Falken“. Das mag auch an Lanes Einfluss liegen, der als ihr geldpolitischer Vordenker gilt.

Auf der Gegenseite hat sich – zumal nach dem vorzeitigen Abschied von Ex-Bundesbankchef Jens Weidmann Ende 2021 – Österreichs Notenbankchef Ro­bert Holzmann als vehementester „Falke“ profiliert. Zu dem Lager zählen zudem auch der niederländische Zentralbankchef Klaas Knot (siehe eingeblockten Text) und Bundesbankchef Nagel. Als Nagel zum Jahreswechsel auf Weidmann folgte, war vielfach die Rede davon, dass er pragmatischer sein könne als sein Vorgänger, der im EZB-Rat oft allein auf verlorenem Posten stand. Das mag eine Erklärung sein, warum so mancher Beobachter Nagel noch nicht so eindeutig als „Falke“ einschätzt wie Weidmann. In der aktuellen Diskussion lässt Nagel aber keinen Zweifel daran, dass er für entschlossene Zinserhöhungen ist und neue Anleihekäufe zur Unterstützung für hoch verschuldete Länder wie Italien sehr kritisch sieht.

Die rekordhohe Inflation im Euroraum hat nun zwar auch die „Tauben“ auf die Linie einschwenken lassen, dass zumindest die billionenschweren Anleihekäufe und der Negativzins rasch beendet werden müssen. Im vergangenen Jahr hatten sie lange darauf gepocht, dass die hohe Inflation nur vorübergehend sei und kein starkes geldpolitisches Gegensteuern erfordere; nun bestimmen verstärkt die „Falken“ die öffentliche Diskussion. Das Tempo und das generelle Ausmaß der geldpolitischen Normalisierung sind aber weiterhin umstritten. Während sich etwa Nagel sogar vorstellen kann, die Leitzinsen in den restriktiven Bereich zu erhöhen und so die Wirtschaft aktiv zu bremsen, mahnen andere wie Italiens Direktoriumsmitglied Fabio Panetta zur Vorsicht. Sie verweisen auf die Folgen des Kriegs und die Risiken einer Rezession.

Heftig gerungen wird auch um das avisierte neue „Antifragmentierungsinstrument“, das der EZB-Rat im Juni in einer Krisensitzung in Aussicht gestellt hat. Im Kern geht es darum, dass das Eurosystem bei Bedarf durch Anleihekäufe einen als übermäßig betrachteten Anstieg be­stimmter Euro-Staatsanleihenrenditen und -Renditespreads verhindern will. Die Befürworter argumentieren, dass sonst eine „Fragmentierung“ drohe, die die einheitliche Wirkung – Transmission – der Geldpolitik in allen Euro-Ländern beeinträchtige. Kritiker argwöhnen, es gehe nur darum, hoch verschuldete Länder wie Italien davor zu bewahren, in Finanzierungsprobleme zu geraten.

Altbekannte Konfliktlinien

Es sind vor allem Notenbanker aus der Euro-Peripherie, die einem mächtigen In­strument möglichst oh­ne Grenzen und Auflagen das Wort reden (siehe BZ vom 14. Juli). Andere wie Bundesbankchef Joachim Nagel warnen und se­hen hohe Hürden für ein Eingreifen. Die Konfliktlinien sind dabei bestens bekannt.

Denn wenngleich die Mitglieder des EZB-Rats und insbesondere auch die nationalen Zentralbankchefs die Interessen der gesamten Währungsunion im Blick haben und keine nationalen Interessen verfolgen sollen, standen sich auch in der Vergangenheit häufig die Vertreter aus der Euro-Peripherie und den Euro-Kernländern gegenüber – eine Einteilung, die sich auch in der Betrachtung von „Tauben“ und „Falken“ spiegelt. Das hat auch mit unterschiedlichen wirtschafts- und geldpolitischen Philosophien und Grundsätzen zu tun. Aber auch die jeweilige Lage in den Ländern spielt nach verbreiteter Einschätzung oft eine zentrale Rolle.

Im vergangenen Jahr sorgte etwa eine Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) für Aufsehen, die zu dem Ergebnis kam, dass die damalige Konfliktlinie beim Streit im EZB-Rat über die Fortdauer der Anleihekäufe durch die Höhe der Staatsschulden im Heimatland der Ratsmitglieder erklärt werden konnte.

In der Vergangenheit sind solche Konflikte immer wieder eskaliert: Als etwa der EZB-Rat im Mai 2010 unter Präsident Jean-Claude Trichet we­gen der Euro-Krise erstmals den groß an­gelegten Kauf von Staatsanleihen be­schloss, machte der damalige Bundesbankpräsident Axel Weber sogleich seine Kritik öffentlich – ein damals beispielloser Vorgang. Als im Mai 2012 mit dem Staatsanleihekaufprogramm OMT das Whatever-it-takes-Versprechen des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi in Form gegossen wurde, stimmte Ex-Bundesbankchef Weidmann als Einziger dagegen – ein Konflikt, der später vor dem Bundesverfassungsgericht fortgesetzt wurde und der das Verhältnis der beiden auf Dauer be­lastete. Und als Draghi am Ende seiner Amtszeit im September 2019 ge­gen viele Stimmen im Rat ein neues Stimuluspaket inklusive Neuauflage breiter Anleihekäufe (QE) durchboxte, führte das zu einer beispiellosen Spaltung im Gremium – die lange Zeit nachwirkte.

Lagarde hatte sich von Anfang an auf die Fahnen geschrieben, diese Gräben zu überwinden. Lange Zeit gelang ihr das ganz gut. Ihr Alleingang im Mai mit einem in Form wie Inhalt ungewöhnlichen Blog zur Zinspolitik hat aber nicht jedem im Rat geschmeckt und teils ungute Erinnerungen geweckt. Jetzt steht die selbsterklärte „Eule“ vor ihrer richtigen Bewährungsprobe.

Zuletzt erschienen:

Die Entscheidungen (14. Juli)

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