Energiepolitik

Ausbau statt Ausgleich

Flickschusterei statt Zukunftsstrategie: In der Energiekrise läge die Chance für eine nachhaltige Erneuerung. Deutschland verspielt sie gerade.

Ausbau statt Ausgleich

Deutschland droht ein heißer Winter. Ein Blick auf Twitter genügt, um zu erkennen: Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker, Querdenker und Polit-Extremisten laufen sich warm, um aus der akuten Energiekrise und der wachsenden Angst vor Versorgungsengpässen und unbeheizten Wohnzimmern politisches Kapital zu schlagen. Nach der Corona-Pandemie instrumentalisieren sie das nächste Thema, um Zweifel an Demokratie und staatlichen Institutionen zu säen – und die Polarisierung der politischen Lager voranzutreiben. Ließen sich mit Wut und Reibungshitze, mit der negativen, spalterischen Energie, die den gesellschaftlichen Diskurs hierzulande so häufig prägt, Wohnungen beheizen, müsste sich Deutschland keine Sorgen vor dem Winter machen.

Aber in der Realität verläuft der Zusammenhang nun mal andersherum. Für Hass und Extremismus gibt es keine Entschuldigung. Wohl aber Ursachen. Und eine davon heißt in vielen Fällen: Angst vor Unsicherheit und Veränderung. Nur ist der Umgang mit der zweifellos außergewöhnlichen Ballung ökonomischer, ökologischer und geopolitischer Krisen derzeit kaum geeignet, Menschen die Angst zu nehmen. Allzu viele Entscheidungen der vergangenen Monate erzeugen das Bild einer reaktiven Politik, getrieben von den Ereignissen – und zerrieben im interessenpolitischen Klein-Klein.

Der zu Recht hochumstrittene Tankrabatt. Das ausgerechnet in die pendlerarme Urlaubszeit hineingestartete 9-Euro-Ticket. Die bevorstehende Senkung der Förderung für Elektroautos. Die Debatte um einen kurzfristigen Ausstieg vom Atomausstieg. Der fast schon mitleiderregend granulare Vorschlag, Kohlezügen Vorrang vor dem Schienen-Personenverkehr zu gewähren, um die Versorgung von Kraftwerken sicherzustellen. Und zuletzt: eine Gasumlage zur Entlastung existenzgefährdeter Energieversorger sowie eine Mehrwertsteuersenkung zur Entlastung der soeben mehrbelasteten Gaskunden. Eine milliardenschwere, zeitlich befristete Gießkanne. Flankiert von der öffentlichkeitswirksamen Abfuhr aus Brüssel für den Versuch, per Ausnahmeregelung die Gasumlage von der Mehrwertsteuer zu befreien. Trial and Error.

Dabei besteht ja kein Zweifel: Die durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöste Vervielfachung der Gaspreise hat für Energieversorger wie für ihre Kunden dramatische Folgen. Explodierende Heizkostenrechnungen bringen Privathaushalte in Zahlungsnot. Milliardenverluste bringen systemrelevante Netzbetreiber wie Uniper in Existenznot. Da kurzfristig keine Alternative zur Verfügung steht, bleibt gar nichts anderes übrig als ein Rettungseinsatz – der sich etwa in der Staatsbeteiligung an Uniper manifestiert. Im vollen Bewusstsein, dass die zugrunde liegenden Abhängigkeiten nie hätten entstehen dürfen.

Doch die beunruhigende Erkenntnis aus diesem Fall ist: Klare Strategien, diese Abhängigkeiten konsequent aufzulösen, sind nicht erkennbar. Stattdessen folgt ein Patchwork unterschiedlich befristeter Einzelmaßnahmen, die vor allem signalisieren: Der Staat bemüht sich, finanzielle Härten, die aus einem Weiter-so-wie-bisher-Lifestyle entstehen, so gut wie möglich abzufedern. Zu wenig Anreiz für Transformation. Dabei gehört zur Wahrheit, dass auch Steuersenkungen und Energiegeld inflationsbedingte Einbußen bei Wohlstand und Lebensstil nicht verhindern werden.

Notwendig wäre es deshalb, die Menschen einzuschwören auf einen großen gesellschaftlichen und solidarischen Kraftakt. Und auf eine konsistente, langfristige Strategie, um Deutschlands Energieversorgung zukunftsfähig und krisenfest zu machen. Oft genug haben die Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen, zu welcher ausgeprägten Solidarität und Veränderung sie bereit sind. Wenn sie damit zu einem klaren Zielbild und einem gesellschaftlichen Konsens beitragen können. Die jahrelange breite Zustimmung zum Atomausstieg ist ein gutes Beispiel.

Zu den abgedroschensten Lebensweisheiten zählt, dass in jeder Krise eine Chance liegt. Und tatsächlich könnte die gegenwärtige Kulmination von Schocks und Risiken ein Katalysator sein für längst überfällige Transformationsschritte. Für den konsequenten und ideologiefreien Ausbau der erneuerbaren Energien, für eine Modernisierung von Infrastruktur und Verkehrssystemen, für eine flächendeckende Digitalisierung – und nicht zuletzt für eine Fitnesskur für die Sozialsysteme. Hier wären Milliardensummen nachhaltig angelegt.

Teuer wird es so oder so.

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