Erdgas

Gazprom-Versäumnis wird Russland noch lange schmerzen

Die Vorstellung, Asien könne Europa als größten Markt für russisches Gas ersetzen, ist eine hartnäckige Fehleinschätzung. Gazprom fehlt dafür nicht nur ein größeres Pipelinenetz nach Asien, sondern der Gaskonzern hat es auch versäumt, rechtzeitig auf LNG zu setzen.

Gazprom-Versäumnis wird Russland noch lange schmerzen

Von Eduard Steiner, Wien

Mit Spannung wurde den monatlichen Exportzahlen des russischen Gaskonzerns Gazprom schon früher entgegengesehen. Seit Russland jetzt aber mit Europa im totalen Clinch liegt und die Gasflüsse zur Existenzfrage für beide Seiten geworden sind, ist ein Wettbewerb um ihre Deutung entbrannt. Die Europäer, im Horror vor Versorgungsengpässen gefangen, wollen sich vergewissern, dass sie auch mit geringen Liefermengen die Speicher ausreichend füllen können und hoffentlich Gazprom selbst stärker unter ihren Exportbeschränkungen über die Nord-Stream-Route leidet als sie. Die Russen wiederum wollen vermitteln, dass beides nicht der Fall ist und sie ohnehin andere Märkte haben – vor allem China und andere asiatische Länder.

Die jüngst von Gazprom mitgeteilten Zahlen für die ersten sieben Monate 2022 freilich zeigen, dass Letzteres Wunschdenken ist. So hat Gazprom im Jahresvergleich 40 Mrd. Kubikmeter, respektive 34,7%, we­niger ins sogenannte ferne Ausland gepumpt, worunter vor allem die EU zu verstehen ist, die ihren Verbrauch um 31% gekürzt hat. Dennoch flossen immer noch 75,3 Mrd. Kubikmeter (gut 80%) des deutschen Jahresverbrauchs) über die Grenze.

Der Export nach China wurde im selben Zeitraum zwar um beachtliche 60,9% gesteigert. Aber angesichts des niedrigen Volumens von 10,39 Mrd. Kubikmeter, die Gazprom im Gesamtjahr 2021 nach China verkaufte, während der Konzern auf seinem Hauptmarkt EU 155 Mrd. Kubikmeter absetzte und gerade deshalb einen Rekordgewinn von 29 Mrd. Dollar erzielte, bleibt der chinesische Markt marginal. „China wird Europa als Gasmarkt nie ersetzen“, sagt Michail Krutichin, Partner der Moskauer Energieberatungsfirma Rusenergy, der Börsen-Zeitung.

LNG-Kapazitäten fehlen

Die EU bleibt also auch unter den neuen Bedingungen die Cashcow für die Russen. Genau aus dieser Abhängigkeit will sie aber heraus – mit schweren Folgen für die Russen: Bis 2025 könnte Gazproms Gasvolumen, das in die EU und die Türkei fließt, auf 100 Mrd. Kubikmeter fallen, während es im Vorjahr 175 Mrd. Kubikmeter betragen hatte, meint die Moskauer Investmentgesellschaft BKS in ihrer Prognose.

Wenig verwunderlich, dass vor dem Hintergrund solcher Szenarien gerade China als Retter hervorgestrichen wird. Im Ölsektor ist es das – so wie übrigens plötzlich auch Indien – tatsächlich. Chinas und Indiens zusätzliche Ölabnahmen haben dieses Jahr den rückläufigen Absatz in Europa zumindest bis Juni fast eins zu eins kompensiert.

Beim Gashandel ist die Situation ungleich schwieriger. Und zwar aufgrund der Infrastruktur. „Russland kann das Gas, das für Europa vorgesehen ist, nicht einfach in den Osten umlenken“, sagt Walter Boltz, russlanderfahrener internationaler Energieberater und bis vor kurzem Chef der Gasarbeitsgruppe in der Agentur der Europäischen Energieregulatoren (ACER), auf Anfrage.

Lange hatte sich China überhaupt geziert und erst 2014 einem ersten Abnahmevertrag zugestimmt. Auf jährlich 38 Mrd. Kubikmeter über 30 Jahre hat man sich geeinigt. Gazprom hat die Pipeline „Power of Siberia“ dafür gebaut, Ende 2019 in Betrieb genommen und wird sie ab 2025 mit ihrer vollen Kapazität betreiben. Dieses Jahr kam ein neuer Vertrag über weitere 10 Mrd. Kubikmeter pro Jahr von der russischen Pazifikinsel Sachalin hinzu. Die Pipeline muss aber erst gebaut werden.

Überhaupt steckt das gesamte Pipelinenetz Richtung China in den Kinderschuhen, während es Richtung Europa weit verzweigt ist. Aber das ist heute nicht mehr das Haupthindernis für die Belieferung asiatischer Märkte. Das Hauptproblem ist: Gazprom hat es seit eineinhalb Jahrzehnten versäumt, sich von der Fixierung auf den Pipelineexport zu lösen und stärker auf verflüssigtes Erdgas (LNG), das mit Tankern transportiert wird, zu setzen.

Selbst Kremlchef Wladimir Putin hat Gazprom schon vor Jahren dafür gerügt. „Gazprom hat keine Erfahrung damit, neue Geschäftsrichtungen aufzubauen, und hat daher diese Entwicklung verschlafen“, sagt Krutichin. „Aus heutiger Sicht war das sicher ein Fehler“, meint auch Boltz.

Damit Russland diese Entwicklung nicht etwa nachholt, hat der Westen Sanktionen auf den dafür nötigen Technologietransfer verhängt. Gazprom musste daher ihren Plan für eine LNG-Anlage in der Baltischen See aufgeben. Die Regierung weiß um das Problem. Nicht zufällig hat Premierminister Michail Mischustin im Juli erklärt, Russland müsse die LNG-Industrie ausbauen, „um die Mobilität unserer Ressourcen zu erhöhen“. Bemerkenswert ist, dass die wenigen russischen LNG-Anlagen alle unter Beteiligung internationaler Partner errichtet worden sind.

So auf Sachalin, wo jährlich 9,6 Mill. Tonnen LNG (entspricht 13,2 Mrd. Kubikmetern) produziert werden. Ebenso auf der arktischen Halbinsel Jamal, wo wohlgemerkt nicht Gazprom, sondern ihr russischer Konkurrent Novatek, der ausschließlich auf LNG setzt, unter chinesischer und französischer (Total Energies) Beteiligung entsprechende Anlagen betreibt. Im Vorjahr wurden dort 19,6 Mill. Tonnen LNG produziert. Ein zweites Projekt namens Arctic-LNG2 in ähnlicher Größenordnung ist in Bau, stockt aber nun aufgrund der Sanktionen.

So bleibt vorerst das Faktum bestehen, dass derzeit nicht einmal 10% des russischen Gasexports in Form von LNG das Land verlassen. „Angesichts der heutigen Realitäten wäre es für Russland sinnvoll und stabiler, wenn das Verhältnis zwischen LNG-Export und Pipeline-Export 50:50 wäre“, sagt Boltz. Doch selbst ohne Sanktionen würde der Aufbau solcher LNG-Kapazitäten mindestens zehn Jahre dauern, da im Unterschied zum Nahen Osten kältebedingt nur höchstens die Hälfte des Jahres gebaut werden könne, so Boltz. Von mindestens zehn Jahren im besten Fall spricht auch die Internationale Energieagentur (IEA) – allerdings in Bezug auf die Frage, bis wann Gazprom jährlich das Volumen von jenen 155 Mrd. Kubikmetern in die asiatischen Märkte liefern könne, die sie 2021 in die EU gebracht hat.

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