Energiekosten

Standpunkt ist Luxus

Hohe Energiekosten belasten die industrielle Produktion in Deutschland, aber Standortverlagerungen sind keine leichte Übung. Überdies zählen inzwischen auch politische Standortqualitäten.

Standpunkt ist Luxus

Vorbei die Zeiten, als Unternehmen in ihrer Standortpolitik zugleich einen Standpunkt deutlich machten – zum Beispiel den, dass eine große industrielle Produktionsanlage für die Region Wolfsburg aus politischen Gründen so unerlässlich ist, dass über Logistik, Auslastung und Kostennachteile gerne hinweggesehen werden kann. Derlei „übergeordnete“ Gesichtspunkte sind in deutschen Unternehmen zum Luxus geworden, den sich selbst der finanzstarke VW-Konzern nicht mehr uneingeschränkt leisten will. Im Angesicht von Kostenschüben, die an Standorten in Deutschland und Osteuropa durch galoppierende Gaspreise und die damit schwelende Energiekrise ausgelöst werden, denkt das Management des Automobilherstellers über Standortverlagerungen nach. Bei Volkswagen sind insbesondere große Produktionsanlagen in Deutschland, aber auch in Tschechien und der Slowakei von der Gasknappheit betroffen, weil in diesen Ländern die Abhängigkeit von russischem Gas besonders hoch ist. Mittelfristig zieht das Unternehmen daher alternative Standorte für die Produktion in Betracht, um Kostennachteilen zu begegnen und auch möglichen Produktionsausfällen vorzubeugen.

Den international auch in seinen wichtigen Absatzmärkten – allen voran China – mit Fa­briken breit aufgestellten Konzern treibt allerdings auch die Sorge nach den Auswirkungen der Energiekrise auf seine Zulieferer um. Deren Widerstandsfähigkeit wird dadurch ebenfalls einem neuerlichen Härtetest unterzogen – der schwer verkraftbar ist, weil der teure Transformationsprozess in die Elektromobilität viele kleinere Anbieter bereits finanziell an ihre Grenzen führt. Laut Branchenverband VDA hat unter den Mitgliedern aus der Zulieferindustrie ein Zehntel Liquiditätsprobleme oder erwartet sie in den nächsten Monaten. Die Hälfte der Verbandsmitglieder hat Investitionen gestrichen, ein Fünftel verlagert diese ins Ausland.

Die enge Verflechtung von Automobil- und Zulieferindustrie zeigt indes zugleich sehr deutlich, dass Standortverlagerungen in der Produktion alles andere als trivial sind. So ziehen unter Umständen Energiekostenvorteile in Zeiten von angespannten Lieferketten und Komponentenmangel deutlich größere Probleme nach sich, als bei einem geplanten „Umzug“ in einem anderen politischen und wirtschaftlichen Umfeld zu berücksichtigen wären. Die Komplexität bremst auch Standortüberlegungen in anderen energieintensiven Branchen, etwa der Chemieindustrie. Der von der Gaskrise naturgemäß stark getroffene BASF-Konzern kann an anderen Standorten, insbesondere in den USA, mit einem deutlich niedrigeren Gaspreis kalkulieren und wird dies bei seiner Investitionsplanung fraglos berücksichtigen. Allerdings ist eine direkte Verlagerung von Produktionskapazitäten auch für den Chemieriesen keine leichte Übung. Abgesehen von einer schlagkräftigen Konkurrenz in den USA stünde auch ein Mangel an Abnehmern einer dortigen Produktionsausweitung entgegen. Die Automobilindus­trie, die für BASF Hauptkunde ist, wird kaum aus dem Stand heraus ihren Marktanteil in Amerika schlagartig ausbauen und damit die Nachfrage nach Vorprodukten aus der Chemie erhöhen können.

Die enge lokale Verzahnung entlang der gesamten Lieferkette über die Produktion bis hin zum Absatzkanal ist ein oft schwerwiegender Hemmschuh von Standortverlagerungen. Auch ganz abgesehen davon, dass sich der Neubau einer industriellen Fabrikanlage im Aufwand nicht vergleichen lässt mit dem Ortswechsel bei einem IT-Unternehmen, das gegebenenfalls eine mehr oder minder große Zahl von Softwareingenieuren umsiedelt.

Im aktuellen geopolitischen Umfeld gewinnen überdies neben den unmittelbaren Kosten eines Standorts auch noch andere Überlegungen an Bedeutung. Der Ukraine-Krieg und die Spannungen zwischen den USA und China haben den Blick für politische Schocks als Auslöser von betrieblichen Schwierigkeiten geschärft. Das gilt für die Energieversorgung, aber auch für Abhängigkeiten bei Schlüsselprodukten wie Halbleitern und letztlich kritischen Komponenten aller Art. Deshalb werden auch die politischen Qualitäten eines Standorts in Deutschland oder Europa inzwischen stärker in die Waagschale geworfen. Auch dies lenkt Investitionsentscheidungen. Gezieltes Onshoring, also die Rückverlagerung von Produktion an teure oder im Idealfall heimische Standorte, gehört bei vielen Unternehmen inzwischen zum Maßnahmenkatalog, um sich künftig insgesamt resilienter aufzustellen. Dies spiegelt teilweise ein Kontrastprogramm zu etablierten Standortstrategien.

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