Unterm StrichJapan vs Deutschland

Trügerische BIP-Statistik

Deutschland hat Japan in der BIP-Statistik überholt, doch der Rangwechsel trügt. Beide Länder stecken in der Rezession. Aber während man hierzulande über die richtige Antwort darauf streitet, wird in Japan gehandelt.

Trügerische BIP-Statistik

Japan vor Deutschland

Von Claus Döring

Japans und Deutschlands Wirtschaft stecken in der Rezession. Doch während man hierzulande über die richtige Antwort darauf streitet, wird in Japan gehandelt. Und der Aktienmarkt boomt.         

Es war ein wenig Balsam für die von Abstiegsängsten geplagte deutsche Seele, als jetzt bekannt wurde, dass Deutschland Japan als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt abgelöst habe. 4,46 Bill. Dollar deutschem Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2023 stehen 4,21 Bill. Dollar in Japan gegenüber. Dass der Platzwechsel allein dem Wechselkurseffekt bei der Umrechnung des nominalen BIP in die US-Währung geschuldet ist (vgl. BZ vom 16. Februar), passte nicht in die schnellen Schlagzeilen. Bei Betrachtung in lokaler Währung zeigt sich für Japan immerhin ein reales BIP-Wachstum von 1,9% verglichen mit einem Schrumpfen um 0,3% in Deutschland. Und gerade für die japanische Seele nicht unwichtig: Das nominale Wachstum Japans von 5,7% lag zum ersten Mal seit fast einem halben Jahrhundert über jenem von China mit 4,6%.    

Die Betrachtung des BIP und damit der Blick in den ökonomischen Rückspiegel kann also recht unterschiedlich ausfallen, je nach Blickwinkel oder Wahl der Sehhilfe. Entscheidend ist der Blick nach vorn. Er wird bestimmt von der Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft und ihrer Unternehmen, von den staatlichen Rahmenbedingungen und der Leistungsbereitschaft der Menschen. Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit Japans war es viele Jahre nicht gut bestellt. Die Produktivität trat auf der Stelle, es fehlte an Investitionen, die Deflation belohnte das Horten von Geld. Doch jetzt dreht sich die Lage. Der aufgrund der zögerlichen Zinswende in Japan gegenüber dem US-Dollar stark abgewertete Yen hat die Exporte beflügelt (plus 11% im vierten Quartal). Kräftige Gewinnanstiege haben die Investitionslaune der Unternehmen gehoben.

Die Märkte handeln bekanntlich Zukunft, und die Entwicklung des japanischen Aktienmarktes spricht eine deutliche Sprache. Internationale Investoren setzen darauf, dass Japan sein lange brachgelegenes Potenzial mobilisiert. Stolze 28% gewann der Aktienindex Nikkei 225 im Jahr 2023 verglichen mit respektablen 20% beim Dax 40. Seit Jahresanfang legte der Nikkei weitere 15,6% zu, der Dax nur noch 2,3%. Und im Gegensatz zu früheren Jahren wird Japans Aktienmarkt kaum mehr von der Notenbank gepimpt. Schon 2023 erwies sich die Bank of Japan, die seit 2010 ihr Quantitative Easing nicht nur durch Anleihe-, sondern auch durch umfängliche ETF-Aktienkäufe umgesetzt hatte, Marktbeobachtern zufolge als Nettoverkäufer von japanischen Aktien beziehungsweise ETFs.

Die demografische Entwicklung, die auf dem überalterten und seit 2010 bevölkerungsmäßig schrumpfenden Japan noch schwerer lastet als auf Deutschland, hat im Land der aufgehenden Sonne eine Veränderungsbereitschaft ausgelöst, von der man hierzulande noch weit entfernt ist. Obwohl die Erwerbsbevölkerung (15- bis 64-Jährige) in Japan seit Mitte der 1990er Jahre sinkt, ist die Zahl der Erwerbstätigen bis zur Pandemie von Jahr zu Jahr gestiegen. Das Rezept: Immer mehr Frauen werden erwerbstätig und immer mehr Rentner arbeiten weiter, oftmals in anderen Berufen.

Reformbereitschaft prägt auch die industrielle Welt, wo die lange vorherrschende Wagenburgmentalität der Japan AG internationalen Standards der Corporate Governance weicht. Immer mehr japanische Unternehmen werden für internationale Anleger investierbar, Kapital fließt ins Land. Dass der taiwanesische Chiphersteller TSMC dort kurz hintereinander in Rekordzeit zwei neue Fabriken baut und in Betrieb nehmen wird, ist ein Lehrbeispiel für die erfolgreiche Industriepolitik der Regierung unter Beteiligung japanischer Konzerne als Mitinvestoren. Japan und Deutschland sind nicht nur ähnlich große Volkswirtschaften, auch viele ihrer Probleme sind vergleichbar. Und beide Länder stecken in der Rezession. Doch während man in Deutschland noch über die richtige Antwort darauf streitet, wird in Japan gehandelt. Unter den Blinden ist eben der Einäugige König.   

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