Unterm Strich

Wenn Rezessions­angst die Inflations­gefahr frisst

US-Notenbank und EZB sollten die Zinsen um 100 respektive 50 Basispunkte erhöhen, um die Inflationserwartungen in den Griff zu bekommen.

Wenn Rezessions­angst die Inflations­gefahr frisst

Es ist wie mit dem zur Hälfte gefüllten Glas Wasser: Ist es halb voll oder halb leer? Liegt an den Finanzmärkten mit einem Rutsch des S&P 500 um gut 20% seit Jahresanfang das Schlimmste bereits hinter uns oder aber steht es erst bevor? Ökonomisch betrachtet: Gelingt den Zentralbanken bei der Bekämpfung der Inflation eine sanfte Landung oder kommt es zur Rezession? Oder geldpolitisch gefragt: Sind moderate Zinserhöhungen das Gebot der Stunde oder sind es eher große Zinsschritte?

Schon 2023 Zinssenkungen?

Die Inflationsdaten scheinen eine klare Antwort zu geben und große Zinsschritte zu empfehlen. In den USA hat der Anstieg der Verbraucherpreise im Juni mit 9,1% das höchste Niveau seit 40 Jahren erreicht. Und selbst wenn man Energie- und Nahrungsmittelpreise herausrechnet, ist die Kerninflation mit 5,9% über Vorjahr ein Alarmsignal, auf das die Federal Reserve eher stärker als schwächer reagieren müsste. In der Eurozone sieht es nicht viel anders aus mit im Juni 8,6% Inflation und einer Kernrate von 3,7%.

An den Märkten scheint die Notwendigkeit schneller großer Zinsschritte noch nicht gesehen zu werden, auch wenn einige Marktteilnehmer auf Zinserhöhungen der US-Notenbank Fed um 100 Basispunkte Ende Juli und um 50 Basispunkte der EZB am kommenden Donnerstag hoffen. Schon 2023, so signalisiert die inverse Zinsstrukturkurve, setzen die Märkte aber bereits wieder auf Zinssenkungen der Federal Reserve. Insbesondere die viel beachtete Zinsdifferenz zwei- bis zehnjähriger US-Staatsanleihen ist seit April wieder im Minus.

Gestützt werden diese Erwartungen von heftig fallenden Rohstoffpreisen, die als Vorbote einer tiefen Rezession gesehen werden. In der Tat rutschte der Rohölpreis zuletzt wieder unter das Niveau, das vor der Invasion Russlands in die Ukraine herrschte, nämlich unter 95 Dollar je Barrel der Sorte Brent. Nach Kriegsausbruch und Ankündigung der Sanktionen gegen Russland war der Ölpreis auf mehr als 130 Dollar gesprungen. Doch seit Mitte Juni hat sich Rohöl um ein Fünftel verbilligt. Inzwischen überwiegt die Gefahr eines kräftigen Nachfrageeinbruchs die Sorge um Angebotsverknappungen aus geopolitischen Gründen. Auch signalisieren die Vorratsdaten eine konjunkturelle Abschwächung, noch ehe die Notenbanken die Zinskeule so richtig geschwungen haben. Ähnlich sieht es bei wichtigen Industriemetallen aus. Die Talfahrt des Kupferpreises hat die Notierungen auf das Niveau von November 2020 gedrückt und damit ein Drittel unter die bisherigen Höchststände.

Im Schlepptau der USA steuert auch Europa auf eine Rezession zu. Nicht nur viele Marktanalysten, selbst die EU-Kommission befürchtet eine Rezession, wenn Russland den Gashahn für Europa völlig zudreht. Da die EZB der Fed in der Inflationsbekämpfung hinterherhinke, so die nachvollziehbare Argumentation von Marktteilnehmern, werde der Euro noch deutlich unter die Parität fallen, die importierte Inflation die Kosten treiben und das Wachstum abwürgen. Außerdem treiben die Schuldenpolitik der Euro-Länder und die geopolitischen Risiken in Europa das Kapital in die USA.

Die Rezessionsgefahr vor Augen und die Erfahrung des Jahres 2011 im Hinterkopf, als die EZB quasi in die Euro-Krise hinein zuerst die Zinsen in zwei Schritten erhöhte, um sie dann kurz darauf wieder senken zu müssen, scheint vordergründig einiges dafür zu sprechen, nur vorsichtig an der Zinsschraube zu drehen. Dies umso mehr, als der Time Lag von zinspolitischen Maßnahmen die Gefahr prozyklischer Wirkung birgt und damit die Nebenwirkungen der verabreichten Medizin, also Rezession, schlimmer werden könnten als die Krankheit selbst, also die Inflation.

Hohe Inflationserwartungen

Sollten wir also erleichtert sein, wenn die Rezessionsangst die Inflationsfurcht aufzufressen scheint? Im Gegenteil! Denn wenn die Notenbanken jetzt die Inflationsbekämpfung nicht konsequent und lieber etwas überschießend als zu lasch angehen, werden sie die Teuerung nicht in den Griff bekommen und später umso drastischer die Zinsen erhöhen müssen. Dann würde eine tiefe Rezession – wie einst in den USA in den 1980er Jahren als Folge der drastischen Inflationsbekämpfung – kaum zu vermeiden sein. Das Argument bereits wieder sinkender Rohstoffpreise sticht nicht. Denn die inflatorische Gefahr geht nicht mehr von Energie- und Rohstoffpreisen aus, sondern von den in der Kerninflation erfassten Preissteigerungen, nicht zuletzt auch bei Dienstleistungen. Daran ist zu erkennen, dass sich bereits eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt hat, die es zu unterbrechen gilt. Dies ist auch der Grund, weshalb die kanadische Notenbank trotz der Preisentspannung bei den für dieses Land besonders wichtigen Rohstoffen gerade den Leitzins um 100 Basispunkte nach oben gesetzt hat. Es geht darum, die Inflationserwartungen wieder zu verankern, nicht nur bei den Verbrauchern, sondern auch an den Märkten und unter den Ökonomen.

Denn die Inflationserwartungen sind – rund um den Globus – sehr hoch, wie der jüngste Economic Experts Survey des Ifo-Instituts und des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik zeigt. Die aktuelle Umfrage unter 663 Ökonomen aus 113 Ländern ergibt für das laufende Jahr eine Inflationserwartung von 7,7%, für 2023 eine von 6,2% und für 2026 immer noch eine von 4,5%. Diese Erwartungen durch eine überzeugende restriktive Geldpolitik in Richtung des langfristigen Inflationsziels zu drücken, sollte für die US-Notenbanker Grund genug sein, es den Kollegen der Bank of Canada gleichzutun und den Leitzins ebenfalls um 100 Basispunkte zu erhöhen.

Für die EZB gilt Vergleichbares. Sie sollte deshalb schon jetzt um 50 statt der angedachten 25 Basispunkte nach oben gehen. Denn es geht um ihre Glaubwürdigkeit in der Inflationsbekämpfung und damit um ihre Existenzberechtigung. Wenn die EZB in ihrer Kernaufgabe der Sicherung der Geldwertstabilität versagt, macht sie sich überflüssig.

c.doering@boersen-zeitung.de

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