Großbritannien

„Wir riskieren den Verlust unserer Auto­industrie“

Großbritannien ist zwar gut ins Zeitalter der Elektromobilität gestartet. Doch müsste der Staat in Ladeinfrastruktur investieren, um die Nutzbarkeit von batteriegetriebenen Fahrzeugen sicherzustellen.

„Wir riskieren den Verlust unserer Auto­industrie“

Von Andreas Hippin, London

Die britische Autoindustrie hat in ihrem ersten „elektrischen Jahrzehnt“ 10,8 Mrd. Pfund investiert. „Mit Beginn des zweiten steht mehr auf dem Spiel“, sagt Mike Hawes, der Chef des britischen Autoverbands SMMT. Der Branche stünden aufsichtsrechtliche Vorgaben ins Haus, die zu den härtesten der Welt gehören – „eine Regulierung, die versuchen wird, einem Markt, der ständig mit Gegenwind zu kämpfen hat, das Tempo der Veränderung vorzugeben“. Doch allein durch Weisungen an die Hersteller werde der Markt nicht florieren. Die Branche befinde sich noch nicht in einer Erholung. Sowohl der Markt als auch die Produktion lägen um rund ein Drittel unter dem vor der Pandemie erreichten Niveau.

Der Verband fordert ein „Recht auf Laden“, denn die öffentliche Lade­infrastruktur entwickele sich weitaus langsamer als die Nachfrage nach batteriegetriebenen Fahrzeugen. Ein Drittel der Haushalte verfüge über keine eigene Einfahrt oder keinen eigenen Parkplatz für die Installation eines privaten Ladepunkts. Der Verband erwartet, dass bis 2030 mehr als 9 Millionen Elektrofahrzeuge auf britischen Straßen unterwegs sein werden, bis 2035 mehr als 18 Millionen. Es bedürfe verbindlicher Ziele für den Ausbau der öffentlichen Ladeinfrastruktur, der stattfinden müsse, bevor die Nachfrage richtig einsetze. In London gibt es derzeit wenig Grund zur Klage. Für neun Elektrofahrzeuge gibt es einen öffentlichen Ladepunkt. Im englischen Nordwesten ist das Verhältnis dagegen 1:67. Dabei ist die tägliche Nutzbarkeit eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Entscheidung, auf ein Elektrofahrzeug umzusteigen. In Südeuropa stellen sich diese Probleme in einer ganz anderen Dimension. Wie Thomas Becker, Vice President Sustainability & Mobility Strategy bei BMW, auf der Fachkonferenz SMMT Electrified darstellt, gibt es in ganz Neapel gerade einmal 12 öffentliche Ladepunkte, in Athen 22 und in Porto 8. „In China hätte der Bürgermeister einer Großstadt nicht die Möglichkeit zu sagen, dass ihn Elektrofahrzeuge nicht interessieren“, sagt Becker. Nach seinen Daten gibt es in Großbritannien 1,4 Ladepunkte pro 1 000 Fahrzeuge, in Deutschland 1,0.

Zu wenig Investitionen

Ein weiterer Knackpunkt für die britische Autobranche ist die Kapazität der heimischen Batterieproduktion, die aktuell bei rund 2 GWh liegt. Das ist genug, um 33 000 batteriegetriebene Fahrzeuge pro Jahr herzustellen. Doch um 1 Million Fahrzeuge vom Band rollen zu lassen, müsste sie bis 2030 auf 60 GWh steigen. „Was Großbritannien in die Elektroauto-Infrastruktur investiert, wird von unseren ausländischen Wettbewerbern in den Schatten gestellt“, sagt Andy Palmer, der ehemalige Chef von Aston Martin, der mittlerweile an der Spitze des Elektrobus-Herstellers Switch Mobility steht. „Wir riskieren den Verlust unserer gesamten Autoindustrie und der 800 000 Arbeitsplätze, die daran hängen.“ Wenn das Land die richtigen Entscheidungen treffe, seien die Möglichkeiten dagegen grenzenlos, und es könne seine Position als einer der führenden Autoproduzenten zurückerlangen. Man müsse allerdings berücksichtigen, dass ein Null­emissionsfahrzeug allein noch nicht zu Net Zero führe. Die Herstellung eines Elektrofahrzeugs setze mehr CO2 frei als die Produktion eines Autos mit Verbrennungsmotor. „Die Elektrifizierung per se ist eine relativ niedrige Messlatte im Vergleich dazu, was wir für Net Zero tun müssen“, sagt Palmer. Er setzt sich für ein Label wie das Monroney-Label in den Vereinigten Staaten ein. Es soll den CO2-Fußabdruck und den Anteil lokal produzierter Komponenten eines Fahrzeugs zeigen. „Wir sollten Fahrzeuge und Teile nicht in umweltschädlicher Weise rund um die Welt transportieren“, sagt Palmer.

Auch für Becker verschiebt sich der Fokus von der Reichweite der Fahrzeuge zunehmend in Richtung Beschaffungskette. Man stelle den bisherigen Einsatz von Verbundwerkstoffen zur Reduzierung des Gewichts inzwischen radikal in Frage, weil sie nicht zu leicht wiederzuverwenden sind. Für den Mini gebe es nun Räder aus 100% recyceltem Aluminium. Das reduziere den CO2-Fußabdruck. „Die Beschaffungskette ist ein entscheidender Teil unserer CO2-Verringerungsstrategie“, sagt Becker. Ohne Gegensteuern würde die Elektrifizierung dafür sorgen, dass die in jedem Fahrzeug enthaltene CO2-Menge von rund 12 Tonnen bis 2030 auf 18 Tonnen steigt. Durch die von BMW ergriffenen Maßnahmen soll sie auf 9 Tonnen reduziert werden.