Nahrungsmittelindustrie

Marken­werte im Lebensmittel­sektor schmelzen

In der gegenwärtigen Krise hat Sparen Vorrang vor Nachhaltigkeit. Das trifft im Lebensmittelsektor aber nicht nur die Anbieter von Bio-Produkten, sondern auch klassische Markenanbieter wie Nestlé und Danone.

Marken­werte im Lebensmittel­sektor schmelzen

Von Martin Dunzendorfer,

Frankfurt

Viele Jahre, von 2000 bis 2019, lag der Anteil der Ausgaben privater Haushalte in Deutschland für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren an den gesamten Konsumausgaben unter 15%. Der Tiefpunkt wurde 2016 mit 13,3% erreicht. Erst 2020 und 2021 lagen die Quoten mit 15,5 und 15,4% wieder oberhalb dieser Marke, deren Überschreitung überdurchschnittliche Preissteigerungen im Lebensmittelsektor anzeigt. Mehr noch: Der Anteil der Ausgaben, den deutsche Haushalte für Essen und Getränke aufwenden, am Gesamtkonsum ist ein Wohlstandsindikator. So lag die Quote 1960 noch bei 38% und 1980 bei 20%. Dieses Jahr ist mit dem höchsten Prozentsatz seit der Jahrtausendwende zu rechnen, auch wenn die Preise in nahezu allen anderen Bereichen ebenfalls steigen. Doch nur für Strom, Gas, Heizöl und Kraftstoffe sind die Preisaufschläge – signifikant – höher als für Lebensmittel. Da Strom, Heizung und Benzin aber einen hohen Anteil an den gesamten Konsumausgaben haben – auf Wohnen und Energie entfielen zuletzt etwa 37% – und essenziell selbst für einen bescheidenen Lebenswandel sind, hat dies Folgen für den übrigen Konsum. Dabei wird deutlich, dass so manche Erhebung und Statistik, die in früheren Krisen durchgeführt wurde oder darauf Bezug nahm, auf die jetzige Situation nicht übertragbar ist. In einem Satz: In keiner Krise der vergangenen 20 Jahre hat sich das Verhalten der Verbraucher beim Lebensmitteleinkauf im Vergleich zur Vorkrisensituation so stark verändert wie jetzt.

So war in der Krisenperiode 2007 bis 2009 (Banken- und Finanzkrise, Schulden- und Eurokrise) die Sorge der Markenunternehmen zunächst groß, dass nach dem damals gerade abflauenden „Geiz-ist-geil“-Trend ein erneuter Schlag ins Haus stehen würde. Doch die Konsumenten wendeten sich damals nicht von der klassischen Marke ab; sie setzten vielmehr – und sogar verstärkt – wieder auf Qualität und Innovation; zwei Eigenschaften, die Markenartikler stets für sich in Anspruch nehmen und damit indirekt den Handels- und No-Name-Marken absprechen.

Doch längst hat sich herumgesprochen, dass sich zumindest in Sachen Qualität die meisten Eigenmarken des Handels nicht hinter den klassischen Marken verstecken müssen. Offensiv stellt etwa der Discounter Lidl in seinen Prospekten einen Markenartikel dem entsprechenden Produkt aus dem eigenen Haus gegenüber („Du hast die Wahl“) – mit deutlichem Hinweis auf die Ersparnis, wenn der Kunde die Handelsmarke kauft. Tatsächlich resultierte Wachstum bei Lebensmittelanbietern wie Nestlé und Danone im ersten Halbjahr fast ausschließlich aus Preiserhöhungen, während der Mengenabsatz bestenfalls stabil blieb.

Schönwetterbekenntnisse

Noch an anderer Stelle ist ein Wandel im Einkaufsverhalten zu beobachten, der – wenn die Eindrücke der jüngeren Zeit nicht täuschen – fast dramatisch ist: die Abkehr von Produkten, denen das Prädikat „Bio“ oder „Nachhaltig“ anhaftet. Diese Waren sind in der Regel teurer als Lebensmittel, die das Siegel nicht haben. Bestätigt sich dieser Trend, sind frühere Bekenntnisse von Konsumenten zu einem ökologisch bewussteren Einkauf nichts weiter als Schönwetterschwüre gewesen.

Erst im vergangenen Jahr hatte eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey und des Markenverbandes zu dem Ergebnis geführt, dass 57% aller Kunden in der DACH-Region bereit seien, höhere Preise für nachhaltige Waren (Lebensmittel sowie Körper- und Haushalts-Pflegemittel) zu zahlen. Praktisch kann nun kaum noch eine Rede davon sein. Das liegt zum einen am Problem der sozialen Erwünschtheit von Antworten in Befragungen, die zu Verzerrungen der tatsächlichen Meinung oder Absicht führen. Zum anderen aber an einem Umfeld, das von Inflation und Rezession geprägt ist, und den düsteren Perspektiven, die sich mindestens bis weit ins nächste Jahr hinein erstrecken. Sparen hat nun Vorrang vor Nachhaltigkeit.

Das veränderte Einkaufsverhalten schlägt sich auch im Wert der klassischen Marken nieder. Möglicherweise wird sich das bereits im für diese Woche angekündigten Marken-Ranking „Best Global Brands 2022“ der Marktforscher Katar und Interbrand zeigen. Aus den Sektoren Getränke und FMCG (Fast Moving Consumer Goods) waren im Vorjahr u. a. Coca-Cola (Platz 6 mit 57,5 Mrd. Dollar), Pepsi (28; 19,4 Mrd.), Nescafé (40; 14,5 Mrd.), Nestlé (62; 10,6 Mrd.) und Danone (65; 9,8 Mrd.) in den Top 100 gelandet. Deutschland war mit fünf Automarken sowie SAP, Allianz, Adidas und Siemens vertreten. Hiesige Lebensmittelkonzerne wie Dr. Oetker, Haribo oder Ritter Sport schafften es nicht unter die ersten 100. Und jetzt wohl erst recht nicht.

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