Energie- und Rohstoffpreise

Ohne russisches Erdgas keine Stahlproduktion

Die Stahlindustrie schlägt Alarm. Ohne Erdgas aus Russland drohen Zwangsabschaltungen. Was das für die industriellen Wertschöpfungsketten bedeutet, will sich niemand ausmalen.

Ohne russisches Erdgas keine Stahlproduktion

Von Annette Becker, Köln

Die deutsche Stahlindustrie kommt nicht aus dem Krisenmodus heraus. Nach Diesel- und Coronakrise hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine neues Ungemach gebracht. Im Unterschied zu den vorherigen Krisen ist der mögliche Energie- und Rohstoffentzug, allen voran bei Erdgas, aber weder plan- und noch steuerbar.

Engpass erst im Winter

„Ein Importstopp für Erdgaslieferungen aus Russland ohne gesicherte Alternative würde die Unternehmen der Stahlindustrie in der jetzigen Situation dem Risiko der Zwangsabschaltungen aussetzen“, warnte kürzlich Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl. Die deutsche Stahlindustrie ist mit 40 Mill. Tonnen Rohstahlproduktion der größte Hersteller in der EU und der achtgrößte Produzent weltweit. Da Stahl in vielen industriellen Wertschöpfungsketten der Basiswerkstoff ist, wären die Kaskadeneffekte für die Industrieproduktion in Deutschland und der EU entsprechend groß. Gleichwohl tut die Industrie gut daran, sich so schnell wie möglich auf den Worst Case, den Ausfall der Energie- und Rohstofflieferungen aus Russland, vorzubereiten. Denn wenngleich sich derzeit kein umfassendes Energie-Embargo für Kohle, Öl und Gas seitens der EU abzeichnet, ist nicht auszuschließen, dass Wladimir Putin die Ausfuhren stoppt.

Dabei gilt es für die verschiedenen Energieträger mit unterschiedlichen Zeithorizonten zu arbeiten. Während das Anfang April von der EU beschlossene Einfuhrverbot für russische Steinkohle nach einer viermonatigen Übergangsphase im August wirksam wird, gibt es für den Bezug von Erdgas aus Russland lediglich einen mehrjährigen Reduktionspfad. Dabei soll der Verbrauch von russischem Erdgas nach einem Bericht des Bundeswirtschaftsministeriums bis zum Jahresende auf 30 % und bis Sommer 2024 auf nur noch 10 % reduziert werden.

Während ein Erdgas-Lieferstopp erst im kommenden Winter zu Versorgungsengpässen führen dürfte, sind die Folgen eines Einfuhrstopps für Kohle dagegen sofort spürbar. Denn anders als bei Öl und Gas gibt es für Kohle keine gesetzliche Reserve. Da das Kohleembargo jedoch schon länger in der Diskussion steht, haben sich die Unternehmen der Stahlindustrie schon vor Wochen auf den Weg gemacht, auf dem Weltmarkt Ersatz zu finden. Kohle findet in der Stahlproduktion in zweifacher Weise Eingang, zum einen als Kokskohle im Hochofen und zum anderen als Einblaskohle. Letztere stammt bei den hiesigen Stahlproduzenten überwiegend aus russischen Quellen.

„Aus Russland erhielten wir bislang vor allem sogenannte Einblaskohle. Wir ersetzen diese Bezüge nun Schritt für Schritt und haben bereits alternative Quellen, z. B. in den USA erschlossen“, heißt es bei Thyssenkrupp Steel. Dass die anderweitig beschaffte Kohle teurer ist, versteht sich von selbst. Allerdings dauert es noch einige Zeit, bis der vollständige Ersatz steht, denn die bestehenden Lieferverträge müssen erfüllt werden. „Wir werden die Bezüge im Rahmen bestehender Verträge entsprechend den dann gültigen Regularien einstellen“, verspricht Deutschlands größter Stahlhersteller.

Geringes Ersatzpotenzial

Während der Ersatz von russischer Kohle durch andere Lieferanten gemeinhin als verkraftbar gilt – auch wenn dafür mehr Geld bezahlt werden muss –, sieht das bei Erdgas völlig anders aus. Wenig Mut macht in diesem Zusammenhang eine Analyse des Bundesverbands der Energie und Wasserwirtschaft (BDEW). Kurz- bis mittelfristig, heißt es dort, seien nur etwa 8 % des Erdgasverbrauchs in der Indus­trie substituier- oder reduzierbar.

Dabei entspricht der Erdgasverbrauch der Industrie etwa einem Viertel des gesamten deutschen Erdgasverbrauchs, ohne den Gaseinsatz für die Stromerzeugung in Industriekraftwerken. Am schwierigsten haben es dabei die Papier- und die Chemieindustrie, denen ein Substitutionspotenzial von lediglich 2 % bzw. 4 % bescheinigt wird. In der Metallerzeugung und -bearbeitung sind es dagegen 10 bis 12 %.

Doch ähnlich wie in der Chemieindustrie, die im Verbund arbeitet, sind auch die Stahlhersteller in Verbundkonzepte eingebunden. Bei der Rohstahlerzeugung auf der klassischen Hochofenroute entstehen beispielsweise Kuppelgase, welche die Firmen üblicherweise zur Stromversorgung des Stahlwerks und teils auch zur Versorgung privater Haushalte nutzen. Alternativ können die Kuppelgase auch als Erdgasersatz in der Rohstahlproduktion eingesetzt werden, wenngleich das mit Qualitätsverlusten und Produktionseinschränkungen einhergeht. Vollständig ersetzen lässt sich Erdgas jedoch nicht, ganz abgesehen davon, dass der dann fehlende Strom anderweitig be­schafft werden müsste.

Am Anfang der Rohstahlproduktion steht stets Erdgas, das noch dazu beim Unterschreiten eines bestimmten Anteils die Produktion zum Erliegen bringt. Ähnlich wie in der Glasindustrie oder in Verzinkereien entstehen bei einem abrupten Stopp der Anlagen große Schäden. Das kontrollierte Herunterfahren eines Hochofens nimmt dagegen sechs Monate in Anspruch. Er­schwerend kommt hinzu, dass beim anschließenden Hochfahren neues Material eingesetzt werden muss. Dieses aber liegt bei den Stahlherstellern nicht auf Halde, sondern muss beschafft werden – eine Herausforderung angesichts weiter bestehender Lieferengpässe für alle möglichen Materialien.

Kostenzuschuss

Nach Angaben der Wirtschaftsvereinigung Stahl entfällt der Erdgasverbrauch in der Stahlindustrie zu etwa 30 % auf die Rohstahlerzeugung und zur Hälfte auf die Weiterverarbeitung in den Walzwerken. Die verbleibenden 20 % sind unter Sonstiges zusammengefasst. Mithin würden von einem Erdgas-Embargo nicht nur die Betreiber von Hochöfen, sondern auch jene von Elektrolichtbogenöfen betroffen. Letztere sehen sich zudem weiteren Problemen gegenüber, müssen sie den Strom zum Betrieb des Stahlwerks doch extern einkaufen.

Das führte in der jüngsten Vergangenheit dazu, dass Stahlhersteller wie die Lech-Stahlwerke aus dem bayerischen Meitingen, ArcelorMittal am Standort in Hamburg, wo eine Direktreduktionsanlage betrieben wird, oder auch die Badischen Stahlwerke aus Kehl die Produktion tageweise einstellten oder zumindest drosselten. Grund dafür sind die explosionsartig gestiegenen Strompreise, die keine wirtschaftliche Produktion mehr zulassen.

Doch auch bei Thyssenkrupp haben die Rohstoffpreissteigerungen schon Spuren hinterlassen. So setzte der Konzern Mitte März mit Verweis auf die gestiegenen Rohstoffpreise die Cashflow-Prognose aus. Dass die Bundesregierung den vom Energiepreisschock betroffenen Unternehmen mit Kostenzuschüssen unter die Arme greifen will, wird von daher begrüßt.

Bevor die in Aussicht gestellten Zuschüsse, die bis September 2022 befristet sind, aber auch in der Firmenkasse ankommen, müssen die Unternehmen zunächst umfangreiche Rechenarbeit leisten. Denn obgleich die Stahlindustrie gemäß der Definition der Bundesregierung zu den 26 besonders betroffenen Sektoren zählt, werden nur die über eine Verdopplung der Erdgas- und Strompreise hinausgehenden Kosten bezuschusst. Zudem müssen die Antragsteller nachweisen, aufgrund der zusätzlichen Energiekosten einen Betriebsverlust erwirtschaftet zu haben.

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