Klimaschutz

Starker Wettbewerbs­nachteil für Shell

An den Märkten glaubt kaum jemand, dass das Klima-Urteil gegen Shell die Berufung übersteht.

Starker Wettbewerbs­nachteil für Shell

Von Martin Dunzendorfer,

Frankfurt

Einem börsennotierten Großkonzern wird der Boden unter den Füßen weggezogen, doch der Aktienkurs reagiert kaum. Wie kann das sein? Die Erklärung ist einfach: Kaum jemand, der auf den Kapitalmärkten tätig ist, glaubt, dass das Urteil, das ein Bezirksgericht in Den Haag in einem Verfahren gegen den Öl- und Gasproduzenten Royal Dutch Shell jüngst fällte, Bestand haben wird.

Ausgedehnte Verantwortung

Was ist geschehen? Umweltorganisationen und Tausende von Einzelklägern hatten Shell verklagt. Der niederländisch-britische Konzern verstoße gegen globale Klimaziele und investiere weiter umfangreich in die Förderung von Öl und Erdgas, so der Vorwurf. Eine Kammer des Bezirksgerichts in Den Haag verurteilte Shell am vergangenen Mittwoch, die absolute Menge an Treibhausgasemissionen bis 2030 um 45 % zu senken, wobei die CO2-Emissionen im Jahr 2019 als Basis dienen. Das Unternehmen sei zum Klimaschutz verpflichtet. Die Vorgabe gelte für die Shell-Töchter ebenso wie für Zulieferer und Endabnehmer. Mit dem Urteil in Den Haag geht keine Bindungswirkung für andere Gerichte einher, insbesondere nicht für andere EU-Mitgliedsstaaten. Total­energies und Eni, aber auch BP, ExxonMobil sowie Chevron können also erst einmal aufatmen. Ob es dennoch eine Signalwirkung für ähnliche „Klimaklagen“ – etwa die eines peruanischen Bauern gegen den Kohlekraftwerksbetreiber RWE – gibt, ist umstritten. Die Aktionäre von Shell scheinen dagegen überzeugt zu sein, dass das Berufungsgericht, das der multinationale Energiekonzern anruft, das Urteil aufheben wird.

Zum einen macht das Bezirksgericht in Den Haag Shell für die Emissionen der Zulieferer, also anderer Unternehmen, und sogar der Verbraucher verantwortlich – die Richter sprachen von „kumulativer Kausalität“. Demnach ist nicht der Autofahrer der Verursacher der klimaschädlichen CO2-Emissionen, sondern der Betreiber der Tankstelle, an der Benzin gezapft wurde. Man muss das nur konsequent weiterspinnen, um die Absurdität dieses Vorwurfs zu erkennen: Nicht der Raucher, der Zigaretten kauft, ist demnach für die Luftverschmutzung verantwortlich, sondern der Tabakkonzern. Auf diese Weise würde durch die Rechtsprechung das Gewissen der schlimmsten privaten Kraftstoffverschwender und Umweltsünder reingewaschen.

Von Shell könne erwartet werden, so das Gericht, dass der Konzern angemessene Schritte zur Vermeidung des Risikoeintritts unternehme und seinen Einfluss nutze, um so weit wie möglich nachhaltige Beeinträchtigungen der Interessen der niederländischen Bevölkerung zu minimieren. Im Klartext heißt das wohl, Shell soll das Angebot an Kraftstoffen und anderen Produkten, die auf fossilen Brennstoffen basieren, verknappen, damit Weiterverarbeiter und Endverbraucher nicht in Versuchung geführt werden, diese zu verwenden.

Monströser Eingriff

Das ist zugleich Eingeständnis und Behauptung, dass staatliche und internationale Klima- und Umweltschutzmaßnahmen nichts fruchten, da es nach Ansicht des Gerichts offenbar weder verantwortungsvolle Unternehmen noch mündige Bürger gibt. Vom monströsen Eingriff in privates Unternehmertum zugunsten eines vom Gericht identifizierten höheren Ziels ganz zu schweigen.

Des Weiteren schreibt das Gericht Shell vor, die Treibhausgasemissionen nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in allen anderen Ländern der Welt fast um die Hälfte zu reduzieren. Zur Erklärung heißt es, die CO2-Emissionen des Konzerns schädigen die Bürger der Niederlande, weil sie zur Aufheizung der Atmosphäre beitragen, ganz gleich wo sie entstehen. Was für eine Hybris. Würde jedes Land bzw. dessen Justiz so mit inländischen Unternehmen verfahren, würden sich die Aussichten für Klima und Umwelt zwar in der Tat weltweit einschneidend verbessern. Allerdings lebten die Menschen selbst in Industrieländern dann wieder in Verhältnissen wie vor 1900, denn eine solch immense Belastung, wie sie das Gericht in Den Haag nun von Shell in nur knapp neun Jahren abverlangt, würde – sofern global und konsequent durchgeführt – zum Zusammenbruch aller Systeme und Massenarmut führen.

Indem sich das Gericht in Den Haag bemüßigt fühlt, Shell zum globalen Sündenbock des Klimawandels zu machen und der Firma wirtschaftlich unerfüllbare Auflagen zumutet, hat der Wettbewerb (vorerst) gut lachen, denn die Konkurrenz kann weiter frei über Produktionsvolumen und Investitionen entscheiden.

Fehlende Legitimation

Schließlich betreibt das Gericht auch faktisch Klimapolitik. Aber mit welcher Legitimation? In Demokratien sollten solche weitreichenden Entscheidungen nur von gewählten Abgeordneten getroffen werden, nicht von Richtern. In seiner Entscheidung zum Klimaschutzgesetz vom 24. März hat das Bundesverfassungsgericht die Politik zwar dazu verpflichtet, stärkere und schneller wirkende Maßnahmen zur Senkung der CO-Emissionen zu beschließen. Es hat den Wirtschaftssubjekten aber nicht vorgeschrieben, was aus Sicht des BVerfG angemessen wäre.

Kursbelastender als das Urteil, das keine Chance auf Bestätigung haben sollte, dürfte für Shell sein, dass sich das Verfahren bis zur Klärung in letzter Instanz wohl über Jahre hinziehen wird. Anleger hassen bekanntlich Unsicherheit.