China

Ab durch das Reich der Mitte

Deutsche Unternehmen können den Rückzug aus Russland weitgehend wie den Abgang von einer Kleinkunstbühne betrachten. China steht dagegen geradezu für „die Bretter, die die Welt bedeuten“.

Ab durch das Reich der Mitte

„Ab durch die Mitte“ lautet ein bekanntes Bonmot, das ur­sprünglich aus der Theaterszene stammt und den kürzesten Abgang von der Bühne meinte. 2022 mussten viele Unternehmen den Schauplatz Russland verlassen, nachdem Deutschland und der Westen mit harten Sanktionen auf den Krieg in der Ukraine geantwortet hatten. Der politische Schock und die unmittelbar folgende Gaskrise, die die gesamte Wirtschaft zu einer strategischen Neuausrichtung in ihrer Energieversorgung zwang, hat darüber hinaus auch den Blick auf die Schattenseiten einer globalen wirtschaftlichen Verflechtung geschärft. Die eskalierenden Spannungen zwischen den USA und China, die nun vor allem durch den Streit um die Unabhängigkeit Taiwans zunehmen, lassen bei den Unternehmen hierzulande die Alarmglocken schellen. Denn zum einen ist die Abhängigkeit der hiesigen Wirtschaft von der taiwanesischen Halbleiterproduktion ähnlich dramatisch wie zuvor die Abhängigkeit von russischem Gas. Zum anderen stützt sich das Geschäft zentraler industrieller Leitbranchen wie Automobilindustrie, Maschinenbau, Elektroindustrie oder Chemie in einem Ausmaß auf China, dass eine (schnelle) Entkopplung undenkbar ist.

Der Rückzug aus Russland erscheint im Nachhinein wie ein Abgang von der Kleinkunstbühne, China dagegen gleichsam als „die Bretter, die die Welt bedeuten“. Von daher ist wenig überraschend der Umgang mit dem fernöstlichen Wirtschaftskoloss „in den Chefetagen derzeit das Thema Nummer 1“, heißt es vielstimmig aus Unternehmenskreisen, bei Beratern und auch in der Kreditwirtschaft. Das Reich der Mitte wackelt – als Beschaffungsmarkt, als Handelspartner, als Investitionsstandort.

Die Abhängigkeit von China ist für deutsche Unternehmen in den vergangenen Jahren bis zuletzt stetig gestiegen. „China ist das sechste Jahr infolge größter Handelspartner deutscher Unternehmen jenseits der EU“, betont Gregor Sebastian vom Mercator Institute for China Studies (Merics). Auf der Importseite sticht die Elektro- und Digitalwirtschaft heraus. China stand zuletzt für 32% aller Einfuhren der Branche in Deutschland. Dass 70 bis 80% aller sogenannter Smart Devices (vernetzte IT-Geräte) aus dem Reich der Mitte kommen, macht dieses Gewicht augenfällig. Auch beim Export ist China für diese Unternehmen der wichtigste Markt, mit einem Volumen von 25 Mrd. Euro im Jahr 2021. Für den Maschinenbau ist das Land der zweiwichtigste Markt und steht für 14 Mrd. Euro Umsatz. In der Chemie steht China für die Hälfte des Weltmarktes, und in der Automobilindustrie ist es der weltweit größte Einzelabsatzmarkt.

Die Reihe der Referenzen ließe sich fortsetzen. Und sie macht klar: „Es gibt angesichts dieser starken Verflechtung keine einfachen Lösungen“, so Axel Roos, Partner bei Boston Consulting (BCG). Die politische „Neubewertung des Verhältnisses zu China“, wie sie auch die Bundesregierung vorgenommen hat, wird bisher vor allem in zwei Stoßrichtungen spürbar: Zum einen sehen sich die Unternehmen zu einer Diversifizierung in der Beschaffung und beim Absatz veranlasst, zum anderen müssen Investitionen und M&A-Strategien überdacht werden.

Eine Diversifizierung der Lieferketten hat angesichts der dramatischen Verknappung wichtiger Komponenten, Vorprodukte und Verbrauchsgüter infolge der Pandemie und speziell der chinesischen Covid-Politik bereits eingesetzt. Das Near-Shoring von Schlüsselprodukten wie Halbleitern, vor allem Hochleistungschips durch neue Werke in Europa und den USA – Intel in Deutschland, TSMC in Arizona –, sind ein Anfang und dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Solche Produktionsverlagerungen sind nicht mehr als ein erster Schritt in Sachen Diversifikation der Supply Chain und wirken nicht mehr als ein temporärer Puffer. Dann halten wir bei etwaigen Lieferstopps ein wenig länger durch, sind strukturell aber immer noch verwoben“, befindet Roos.

Regional im Blickpunkt jenseits von China stehen beispielsweise „das Potenzial und die Infrastruktursituation u. a. in Südkorea, Singapur, Vietnam und Indonesien“, wie es der ZVEI formuliert. Die Überlegungen gibt es nicht nur für die Elektro- und Digitalwirtschaft, sondern auch im Maschinenbau und in der Textilindustrie. Dabei spielt nicht nur die Sorge um unmittelbare Produktions- und Lieferausfälle eine Rolle, sondern auch das Problem der Lieferkettenhygiene, wie sie mit Beginn 2023 gefordert wird. Die wachsende Kritik am Umgang mit Menschenrechten in China – u. a. Zwangsarbeit und Drangsalierung – stellt Unternehmen, die dort produzieren lassen, vor Herausforderungen in der geforderten Dokumentation ihrer Beschaffung. Indes ist auch hier eine umfassende Verlagerung ein kaum zu bewältigendes Kunststück. Herausragendes Beispiel ist etwa der Apple-Auftragsfertiger Foxconn. „Auch nur eine Produktionslinie kurzfristig umzusiedeln ist überhaupt nicht vorstellbar – zudem stark symbolisch“, meint der BCG-Manager. Würde die etablierte globale Arbeitsteilung mit einem Partner wie China komplett auf den Kopf gestellt, „würde auch die bisherige Effizienz erheblich leiden“.

Schwieriger als bei den primär vom Import in China produzierter Waren abhängigen Unternehmen ist die Lage für alle, die dort ihren wichtigsten Absatzmarkt haben und durch eigene Produktionsstandorte bereits stark investiert sind. „In China für China“, so Titus von dem Bongart, Partner bei EY in Schanghai, lautet die Kurzformel für eine strategische Grundsatzentscheidung mit weitreichenden Folgen. Große Konzerne, besonders die deutschen Autobauer, stehen vor dem Sprung hinter die Chinesische Mauer. „Die Unternehmen streben gewissermaßen danach, ihr Geschäft dort vom Konzern insofern zu entkoppeln, als dass grenzüberschreitende Lieferketten und IT-Systeme weitestgehend getrennt und Entwicklung und Finanzierung lokalisiert werden. Damit sollen die Folgen von möglichen Sanktionen oder externen Schocks minimiert werden.“

Die Entwicklung beobachtet auch China-Experte Sebastian. Einer Studie des Merics zufolge standen die deutschen Autobauer 2021 für 42% aller ausländischen Direktinvestitionen (FDI) aus der EU im Reich der Mitte. Allein zwischen 2015 und 2020 kletterten die Investitionen des deutschen Automobilsektors in China um 65% auf 33,6 Mrd. Euro. Dies wurde nicht zuletzt gefördert durch ein gelockertes FDI-Regime der Chinesen, das große M&A-Transaktionen mit Mehrheitsbeteiligungen deutscher Konzerne ermöglichte. So hat BMW ihren Anteil am Joint Venture (JV) mit Brilliance auf 75% erhöht, und VW hält 75% des auf die E-Auto-Produktion ausgerichteten JV mit JAC Motor und 50% an dessen Muttergesellschaft. Über derlei milliardenschwere Zukäufe hinaus ist der Wolfsburger Automobilriese auch ein herausragendes Beispiel für die Allokation signifikanter Ressourcen in der Forschung und Entwicklung (F+E) in China. Die Softwaresparte Cariad ist der erste außereuropäische F+E-Hub des Konzerns. Zumindest unter dem Vorgänger von Konzernchef Oliver Blume hieß es zuletzt noch, dass dort „mehrere tausend Software-Experten“ anheuern sollen.

Die Branche, die für rund 10% des deutschen Bruttoinlandsprodukts steht, steuert damit auf einen Interessenkonflikt mit der Politik zu. Diese hat zuletzt einige Warnschüsse abgesetzt, was Engagements der Chinesen in Deutschland betraf: etwa das Veto gegen eine Übernahme von Elmos Semiconductor oder die Begrenzung der Anteile, die die chinesische Firma Cosco an der HHLA übernehmen durfte. Dass die Regierung damit erkennbar auf Abstand zu China geht, macht den Unternehmen hierzulande Sorge. Die deutschen Maschinenbauer warnen nachdrücklich vor einer „Festung Europa“ und dringen darauf, dass „Exportförderinstrumente“ für China nicht abgebaut werden. Große Firmen, die weiter substanziell im Reich der Mitte investieren wollen, fürchten echte Hemmklötze. So könnte es aus Sicht des Merics sein, dass die Bundesregierung „ihr System von Investitionsgarantien im Hinblick auf China schärft, um eine stärkere globale Diversifizierung der Unternehmen voranzutreiben und auch dem Risiko vorzubeugen, dass China über Gebühr von deutscher Forschung und Entwicklung profitiert“, meint Sebastian. Dies wäre vor allem für die Automobilbranche ein schwerer Schlag. Sie setzt wie kaum eine andere auf die Teilhabe am innovativen chinesischen Ökosystem.

Von Heidi Rohde, Frankfurt

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