Richard Zellmann

„Hohe Inflationsraten in den kommenden Monaten“

Richard Zellmann, Managing Partner bei First Private Investment Management, erwartet für die kommenden Monate hohe Inflationsraten. Dennoch könne die Rally an den Börsen noch weitergehen.

„Hohe Inflationsraten in den kommenden Monaten“

Dieter Kuckelkorn.

Herr Zellmann, wie wird sich die Inflation in den kommenden Monaten und Jahren in den großen Volkswirtschaften entwickeln?

Das Thema Inflation treibt uns derzeit stark um, weil es sich um einen wichtigen globalen Swing Factor für die Märkte handelt. Das haben die vergangenen Wochen bestätigt. Ich gehe davon aus, dass wir in den kommenden Monaten zunächst weiter hohe Inflationsraten sehen werden. Dafür sprechen beispielsweise die steigenden Erzeugerpreise nicht nur in den USA, sondern auch in China. In der Folge sind auch die US-Inflationserwartungen auf ein Niveau gestiegen, das wir in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr gesehen haben. Inflationstreibend wirkt auch die Wiedereröffnung vieler Volkswirtschaften mit Abklingen der Coronavirus-Pandemie und der gleichzeitig zu erwartende Rückgang der Sparquoten, die sich in sprunghaft steigendem Konsum entladen werden. Es gibt also kurz- bis mittelfristig Faktoren, die eindeutig preistreibend sind und die das Thema Globalisierung und damit verbundener Disinflation in den Hintergrund drängen. Langfristig sieht das Bild komplexer aus.

Wie weit kann das gehen?

Insbesondere in den USA werden die jüngsten Spitzen von über 4% zunächst noch deutlich überschritten und damit weit über die Werte des vergangenen Jahrzehnts hinausgehen. Allerdings werden die Inflationsraten nachfolgend wieder spürbar abkippen. Neben Energiepreisen sind diverse temporäre Effekte des privaten Konsums am Werk. Entsprechend wird sich die als verlässlicher Trendindikator geltende Kernrate, die die Energie- und Lebensmittelpreise ausblendet, mittelfristig weniger dynamisch entwickeln als zuletzt. Der starke Anstieg der Geldentwertung wird dann im späteren Jahresverlauf schon wegen der Basiseffekte wieder deutlich abnehmen, dann können wir 2022 bei der allgemeinen Inflationsrate auch wieder unter 3% liegen. Entscheidend für die längerfristigen Aussichten sind die Lohnkosten. Ergibt sich hier kein durchgreifender Anstieg, bleibt auch die unterliegende Inflation unter Kontrolle.

Was sind Ihre Erwartungen für Europa?

In Europa wird der Anstieg der Teuerung wohl sichtbar hinter den USA zurückbleiben, weil die wirtschaftliche Lage hier sehr viel anfälliger ist, auch die Inflationserwartung steigt weniger dynamisch. Zwar sehen wir schon seit einigen Jahren auch in der Eurozone eine massiv reflationäre Geldpolitik, jetzt zudem begleitet von einer stark expansiven Fiskalpolitik. Allerdings ist die Arbeitslosigkeit hoch und es gibt Überkapazitäten in der Industrie. Damit wird die Inflation in Europa wesentlich weniger stark ansteigen als in den USA. Dies auch, weil die Abhängigkeit von den Energiepreisen geringer ist und weil die Konjunkturdynamik längst nicht so hoch ist wie in den USA. Und es gibt einen weiteren Grund: Sollte der Dollar unter Druck geraten, wird der Euro zulegen, die Importpreise fallen. Zudem würden dann grundsätzlich die stärker exportorientierten europäischen Volkswirtschaften leiden, was Preissetzungsspielräume dort begrenzt. Damit lässt sich festhalten, dass die Wahrscheinlichkeit für eine irrationale Übertreibung der Inflationserwartungen gering bleibt. Ich denke daher nicht, dass das unverändert sehr zinsreagible und fragile Regime ersetzt wird durch ein durchgreifend inflationäres Szenario, dass sich also das weltweite Umfeld grundsätzlich ändert.

Was würde das für die Märkte bedeuten?

Wir haben es vorerst weiter mit einem reflationären Marktumfeld zu tun, das wie zuletzt phasenweise auch Zinsängste schüren kann. Wobei der Grad der Geldentwertung noch nicht ausreicht, um die Notenbanken ultimativ auf den Plan zu rufen. Das ist für die Märkte trotz steigender Volatilitäten im Grunde der perfekte Mittelweg. Ideal wäre es für Aktien, wenn die Wirtschaft weiter wachsen und die Inflation weder zu niedrig noch zu hoch liegen würde. Und selbst wenn zeitweilig – wie jüngst gesehen – die Teuerungserwartungen mal in Spitzen anziehen, so bleibt doch festzuhalten: Wir befinden uns weiterhin in einem klassischen Goldilocks-Szenario mit historisch eher niedriger Inflation und bestenfalls begrenzten Zinserhöhungserwartungen. Der Mangel an Alternativen zur Aktie wird also bleiben.

Aber was, wenn es anders käme?

Eine durchgreifende, nachfrage- und womöglich lohninduzierte Inflationsspirale hätte heutzutage erhebliche negative Konsequenzen – daher die Nervosität. Denn unsere hochgradig vernetzte Wirtschaft bleibt angesichts rekordhoher Verschuldung extrem zinsreagibel. Entsprechend negative Rückkopplungseffekte wären die Folge. Bei überraschend stark steigenden Zinserwartungen würden etwa die Aktienmärkte massiv korrigieren. Doch auch dieses unwahrscheinliche Szenario würde im fragilen, vernetzten System dann zügig wieder starke, scheinbar paradoxe, gegenläufige Kräfte entfalten, die letztlich in wieder sinkenden Inflationserwartungen münden. Das übergeordnete Szenario bleibt demnach eines, das keine galoppierende Inflation zulässt. Ich denke auch nicht, dass sich dies durch die Coronavirus-Pandemie grundsätzlich geändert hat. Für die Aktienmärkte bedeutet dieses „Durchhangeln“ ein grundsätzlich positives Umfeld, solange die Notenbanken entspannt mit der Lage umgehen und im Sinne der Fed auch mal höhere Inflation zulassen.

Was spricht Ihrer Meinung nach dafür, dass sich das langfristige Szenario von Inflation, die unter Kontrolle bleibt, nicht geändert hat? Welche Faktoren spielen hier eine Rolle?

Dafür spricht unter anderem, dass euphorische Marktphasen mit wirtschaftlicher Expansion auch immer wieder von massiven deflationären Impulsen abgelöst werden, die auch das Ergebnis externer Effekte wie der Finanzkrise oder auch der Pandemie sein können. Das haben wir in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder gesehen und das ist kein Zufall. Es hat mit strukturell wachsender Verschuldung und der starken Verkabelung der Volkswirtschaften untereinander zu tun, aber auch damit, dass die Marktbewertungen mit sehr viel Geld nach oben getrieben werden. Dadurch wurden die Märkte immer zinsreagibler, denn hohe Gewinnerwartungen lassen sich nur noch mit weiterhin niedrigen Zinsen rechtfertigen. Die wiederkehrenden deflationären Krisen müssen zwar nicht ultimativ zu echter Deflation führen, sorgen aber dafür, dass die Inflationserwartungen unter Kontrolle bleiben und dass etwa Löhne und Gehälter als ein wichtiger Auslöser von Inflation nicht über Gebühr steigen.

Aktuell aber rechnen viele Beobachter mit einem längerfristig deutlichen Anstieg der Inflation.

Diese Prognose ist oft mit der Erwartung verbunden, die gegenwärtig hohe allgemeine Verschuldung lasse sich über Inflationierung beseitigen. Das bleibt aber womöglich ein Wunschszenario. Die massive Verschuldung im Finanzsystem ist der eigentliche Grund, weshalb die Zinsen gar nicht steigen dürfen. Sollten die Zinsen stark steigen, würde schnell das gesamte System in Frage gestellt und krisenartige Zustände ausgelöst werden, die dann wiederum die Inflation in Schach halten. Der äußerst umfangreiche fiskalische Impuls, den wir derzeit beobachten können, ist zudem nur eine Momentaufnahme. Er wird wieder zurückgefahren werden müssen.

Bei einer starken Inflationierung der US-Wirtschaft müsste die amerikanische Notenbank eingreifen. Ab welchem Punkt wäre dies der Fall?

Bei einer im Frühsommer zu erwartenden Inflationsrate noch deutlich über den aktuellen Niveaus wird es sicherlich Stimmen im Offenmarktausschuss der US-Notenbank geben, die ein sofortiges Eingreifen der Fed fordern. Allerdings wird die Mehrheit der Notenbanker wohl bei der Überzeugung bleiben, dass es sich nur um ein temporäres Phänomen handelt. Und dennoch ist über den Sommer mit „hawkischeren“ Tönen zu rechnen. Ein veritables Problem würde es für die Fed erst dann geben, wenn die Kernrate der Geldentwertung, die die Energie- und Lebensmittelkosten ausblendet, dauerhaft bei Werten über 3% verharrt und die Lohnkosten ansteigen. Dann könnte man von einem unterliegenden, breiten Trend zu steigenden Preisen sprechen und die Notenbank müsste tätig werden.

Wie sollten sich Anleger für ein Szenario, das sie für wahrscheinlich halten – nämlich einer steigenden, aber unter Kontrolle bleibenden Inflation –, am besten positionieren?

Für Assets, die in besonders hohem Maße zinsabhängig sind, werden die kommenden Monate sicherlich schwieriger werden. Für den Aktienmarkt bedeutet das, dass die weit gelaufenen Wachstumswerte zwar keinen Crash erleben, aber sich unterdurchschnittlich entwickeln werden. Dies dürfte vor allem für das laufende Jahr gelten. Aktuell bietet sich vor allem für Zykliker und für Value-Aktien ein sehr positives Umfeld. Diese Titel werden sich an die Bewertungen herankämpfen, die sie eigentlich verdient haben, und die sind auch nach der jüngsten Erholung noch ein gutes Stück entfernt. Begünstigt werden auch Finanzwerte, weil die Zinsstrukturkurve vermutlich noch etwas steiler wird. Bei Staatsanleihen ist es momentan noch nicht ratsam, etwa in langlaufende US-Treasuries zu investieren, weil die Inflationsindikatoren in den kommenden Monaten ihre Spitzenwerte erst noch erreichen werden. Schon bevor die Geldentwertung dann wieder nachlässt, sollten aber Kaufkurse erreicht werden. Interessant sind auch Rohstoffe. Es ist damit zu rechnen, dass diese auf breiter Front weiter anziehen. Regional gesehen haben Assets aus den Emerging Markets derzeit gute Karten, solange der Dollar keine zu hohe Volatilität zeigt. Mit Blick auf die regionale Allokation haben auch europäische Aktien in der jetzigen Phase deutliche Vorteile gegenüber US-Titeln, unter anderem wegen der stärkeren Exportorientierung und des geringeren Technologieanteils.

Wird sich somit die Rally am europäischen Aktienmarkt und im Dax noch weiter fortsetzen?

Zunächst einmal kann man festhalten, dass trotz der Schwäche der Wachstumswerte und der Rotation in zyklische Titel kein Crash an den Börsen zu erwarten ist. Die Rally kann unter steigenden Bewertungen durchaus noch weitergehen, auch wenn zwischendurch mit stark steigender Volatilität und mit Korrekturen zu rechnen ist. Gerade über den Sommer werden immer wieder Zinsdiskussionen die Stimmung verhageln. Dies würde dann jedoch angesichts des insgesamt freundlichen Marktumfelds wieder Kaufgelegenheiten bieten, weil die Inflation ihren Schrecken verliert. Ausgehend vom bisherigen Allzeithoch kann der Dax in diesem Jahr durchaus noch einmal um weitere 10% zulegen.

Das Interview führte