Daniel Hartmann, Bantleon

„Deutschland hat sich zu sehr auf seinen Lorbeeren ausgeruht“

Der Chefvolkswirt des Assetmanagers Bantleon, Daniel Hartmann, spricht im Interview der Börsen-Zeitung über Lage und Ausblick der deutschen Wirtschaft, die hohe Inflation und die EZB-Politik.

„Deutschland hat sich zu sehr auf seinen Lorbeeren ausgeruht“

Mark Schrörs.

Herr Hartmann, die deutsche Wirtschaft ist im vierten Quartal 2021 deutlich geschrumpft. Ist damit die Talsohle in der aktuellen Konjunkturabkühlung erreicht oder geht es noch weiter bergab?

Die Talsohle dürfte durchschritten sein, auch wenn die Pandemie weiterhin speziell die Konsumnachfrage belastet. Mittlerweile verdichten sich jedoch die Hinweise, dass die Omikron-Welle weniger schlimm ist als befürchtet. Wir rechnen daher mit einer spürbaren Frühjahrsbelebung. Mit Blick auf das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts bedeutet dies, dass auf den leichten Rückgang im vierten Quartal 2021 eine Stagnation im ersten Quartal 2021 und kräftige Zuwächse von rund 2% im zweiten und dritten Quartal folgen sollten.

Vor allem die vierte Coronawelle samt der Omikron-Mutation macht große Sorgen? Wie viel Ungemach droht der Wirtschaft dadurch noch – auch ohne harten Lockdown, etwa, wenn es durch Quarantänevorgaben womöglich zu Personalmangel kommt?

Die Erfahrungen aus Südafrika und Großbritannien machen Mut, dass die Omikron-Welle schneller gebrochen werden kann als gedacht, ohne dass dabei größere zusätzliche Restriktionen erforderlich sind. Ich bin mithin zuversichtlich, dass die deutsche Wirtschaft auch diese – vielleicht letzte Phase der Pandemie – vergleichsweise gut übersteht.

Wäre ein harter, aber kurzer Lockdown jetzt besser als wieder monatelange Restriktionen?

Das Beispiel der Niederlande zeigt, dass harte Lockdowns derzeit nicht viel bringen. Omikron ist einfach zu ansteckend. Besser ist es, auf Sicht zu fahren und abzuwarten, wie stark das Gesundheitssystem belastet wird. Unter Umständen ist es sogar von Vorteil, wenn sich in den nächsten Wochen möglichst viele Geimpfte infizieren und dadurch ihren Immunschutz weiter erhöhen.

Nicht zuletzt neue Corona-Ausbrüche in China drohen die globalen Lieferengpässe zu verlängern oder gar zu verschärfen. Wie schlimm wird es noch – speziell auch für die deutsche Industrie?

China steckt in der Tat in einem Dilemma. Die Regierung wird die Corona-Nulltoleranzstrategie auf Dauer nicht durchhalten können. Dazu wären einfach zu viele regionale Lockdowns erforderlich. In einer Übergangsphase werden daher die Fallzahlen in China in die Höhe schnellen, was Produktionsausfälle nach sich ziehen dürfte. Dabei sollte es sich aber nur um temporäre Durststrecken handeln.

Die Engpässe treiben auch die Inflation. Drohen Deutschland womöglich auf Dauer Inflationsraten von 3 bis 4%?

Ich gehe davon aus, dass nicht nur in Deutschland, sondern in allen Industriestaaten die Ära der tiefen Inflationsraten vorbei ist und wir vor einer Phase höherer Inflationsraten stehen. Dafür sprechen nicht nur die Folgen der Pandemie, sondern eine Vielzahl anderer struktureller Ursachen wie der Klimawandel, die Deglobalisierung, der Fachkräftemangel, steigende Gesundheitskosten, der Aufstieg populistischer Regierungen und der lockere Umgang mit dem Thema Staatsverschuldung.

Das heißt, auch die Europäische Zentralbank (EZB) unterschätzt die Inflation? Müsste sie dann viel entschlossener aus der ultraexpansiven Geldpolitik aussteigen als bislang avisiert?

Die EZB hat ihre Inflationsprognose zuletzt bereits deutlich angehoben. Im Jahr 2023 rechnet sie nunmehr mit einer Teuerungsrate von 1,8% statt 1,5%. Damit ist das Inflationsziel praktisch erreicht, zumal dann, wenn die Kosten für Wohneigentum einbezogen werden. Darüber hinaus überwiegen aus meiner Sicht bei der Inflation eindeutig die Aufwärts- gegenüber den Abwärtsrisiken. Für die ultraexpansive Geldpolitik im aktuellen Ausmaß gibt es daher keine Rechtfertigung mehr. Die EZB hätte ohne Weiteres den Spielraum, die Wertpapierkäufe dieses Jahr schneller auf null zurückführen und noch Ende dieses Jahres mit Leitzinserhöhungen zu beginnen.

Vor allem die Energiepreise sind rasant gestiegen. Sollte die Politik da einschreiten – und was kann sie konkret tun und bewirken?

Werden die Energiepreise gedeckelt, wie etwa derzeit in Frankreich, dürfte der Schuss am Ende nach hinten losgehen. Die Energieunternehmen haben dann noch weniger Anreize, das Angebot in Zukunft auszuweiten. Letztendlich steckt die Politik in der Zwickmühle, denn schließlich ist ein Teil des Energiepreisanstiegs sogar gewollt, um die Energiewende voranzutreiben – Stichwort CO2-Steuer. Es ist eine zentrale Herausforderung der Regierungen, die unteren Einkommensgruppen an anderer Stelle zu entlasten.

Mancher Ökonom wähnt Deutschland strukturell in Abstiegsgefahr. Ist Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig – etwa wegen der deutlich gestiegenen Lohnstückkosten oder in den vergangenen Jahren ausgebliebener Reformen?

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren zu sehr auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Immer auffallender ist überdies die starke Abhängigkeit vom Fahrzeugbau. Um in der Breite als Industrieland langfristig erfolgreich zu sein, müssen alle Standortfaktoren im Blickfeld gehalten werden. In den Bereichen Steuern, Infrastruktur oder Bürokratie fällt Deutschland jedoch in den einschlägigen Rankings von Jahr zu Jahr zurück und droht den Anschluss zu verlieren.

Setzt die neue Bundesregierung wirtschaftspolitisch die richtigen Schwerpunkte – und auf die richtigen Maßnahmen?

Die Bundesregierung legt den Schwerpunkt sehr einseitig auf den Klimawandel. Das ist sicherlich ein wichtiges Thema. Die anderen Bereiche der Wirtschaftspolitik sollten aber nicht vernachlässigt werden. So wird sich der Traum von Deutschland als technologischem Spitzenreiter im Bereich der erneuerbaren Energien nur dann erfüllen, wenn die Standortbedingungen insgesamt stimmen. Ansonsten siedeln sich die Unternehmen im Ausland an.

Die Fragen stellte

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