Energiepreise

Großbritannien droht Winter der Unzu­friedenheit

Viele Briten haben sich in den vergangenen Tagen in die 1970er Jahre zurückversetzt gefühlt. Leere Supermarktregale, steigende Energiepreise und Angst vor Arbeitslosigkeit sorgen für Unmut.

Großbritannien droht Winter der Unzu­friedenheit

Von Andreas Hippin, London

Leere Supermarktregale, rasant steigende Energiepreise und drohende Massenarbeitslosigkeit – in Großbritannien werden derzeit Erinnerungen an die 1970er Jahre wach. Das Gespenst der Stagflation geht um. Das Auslaufen des Coronavirus Job Retention Scheme (CJRS) Ende des Monats könnte dazu führen, dass bis zu 1,7 Millionen Jobs verloren gehen, die bislang vom Steuerzahler subventioniert wurden. Wie viele Arbeitnehmer derzeit noch für die britische Form der Kurzarbeit angemeldet sind, weiß niemand so genau. Die neuesten Daten sind aus dem Juli. Sie zeigten, dass wesentlich mehr Menschen darauf angewiesen waren, als die Volkswirte der Bank of England erwartet hatten. Unglücklicherweise will die Regierung mit dem CJRS auch die während der Pandemie eingeführte Aufstockung der Sozialhilfe (Universal Credit) um 20 Pfund die Woche wieder abschaffen.

Unterdessen explodieren die Energiepreise. Vielen Haushalten stehen saftige Preiserhöhungen ihrer Versorger ins Haus, weil der Regulierer angesichts der Entwicklungen im Großhandel die von ihm festgelegte Preisobergrenze heraufsetzen muss. Zu den Gründen für die rasante Verteuerung von Erdgas gehört, dass der größte britische Erdgasspeicher 2017 stillgelegt wurde. Seitdem findet keine nennenswerte Lagerhaltung im Land mehr statt, durch die sich Preisspitzen glätten ließen.

Unglückliche Verkettung

Die Regierung gefiel sich in den vergangenen Jahren in der Rolle des Vorreiters bei der Energiewende. Die Versorgungssicherheit blieb allerdings nicht deshalb auf der Strecke, sondern durch eine Verkettung unglücklicher Umstände und durch mangelnde Koordination. Mehrere Atomkraftwerke wurden zur Wartung heruntergefahren. Ein Feuer sorgte dafür, dass vorübergehend kein Atomstrom aus Frankreich durch ein Unterseekabel importiert werden konnte. Weil auch noch zu wenig Wind ging, musste mehr Erdgas für die Stromerzeugung verbrannt werden, wodurch die Preise weiter in die Höhe schossen. Der Versorger Drax bot unterdessen an, die geplante Schließung von Kohlekraftwerksblöcken zu verschieben, um im Winter Versorgungslücken schließen zu helfen.

Für besonderes Aufsehen sorgten leere Supermarktregale und die An­kündigung von BP, Tankstellen zu schließen, weil es an Lkw-Fahrern fehle, um sie zu beliefern. Die Petrol Retailers Association empfahl Autofahrern mittlerweile für den Fall, dass ihre Stammtankstelle keinen Sprit mehr haben sollte, den Tank immer zu einem Viertel gefüllt zu halten. Auch hier sind es die Sünden der Vergangenheit, die das Land heimsuchen. Schon 2015 hatte die Road Haulage Association (RHA) davor gewarnt, dass ein Mangel an Lkw-Fahrern die Belieferung zu Weihnachten gefährden könnte. Nach Schätzung des Verbands fehlten bereits damals zwischen 45000 und 50000 Trucker. Seitdem hat sich die Lage durch den EU-Austritt und die Pandemie noch verschärft. Auslöser waren jedoch andere Gründe: die Verrentung vieler älterer Fahrer, das Vorgehen der Steuerbehörde gegen Scheinselbständigkeit, die niedrige Bezahlung und die für junge Menschen hohen Kosten des Lkw-Führerscheins. Mittlerweile fehlen nach Angaben von RHA und UK Logistics zwischen 75000 und 100000 Fahrer. Wie viele Branchen, die vor dem Brexit lieber auf billigere Arbeitskräfte aus der EU auswichen, statt mehr zu bezahlen, fordern auch die Spediteure zusätzliche Visa. Selbst wenn sich die Regierung darauf einlassen sollte, ließe sich auf diese Weise aber nur ein Teil der Versorgungsprobleme lösen. Der Fahrermangel hat bereits zu deutlich steigenden Löhnen geführt.

All das wird nach Schätzung der Bank of England dazu führen, dass die Teuerungsrate im Schlussquartal bei „etwas mehr als 4%“ liegen wird. Zuletzt flirtete das geldpolitische Komitee mit einer Leitzinserhöhung. Für viele Briten würde sich das in höheren Hypothekenraten niederschlagen. Premier Boris Johnson steht ein unruhiger Winter ins Haus.

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