Inflationsdynamik

Kommt jetzt die Lohn-Preis-Spirale?

Der Arbeitsmarkt in der Eurozone brummt, die Inflationsdynamik nimmt zu. Zudem steigen die Mindestlöhne in mehreren Euro-Ländern – allen voran in Deutschland. Die Zutaten für eine Lohn-Preis-Spirale sind alle vorhanden.

Kommt jetzt die Lohn-Preis-Spirale?

In den vergangenen Monaten war die mediale Aufmerksamkeit mit Blick auf die Konjunktur in der Eurozone gänzlich auf die aus dem Ruder laufende Inflationsdynamik gerichtet. Eine andere, hocherfreuliche Entwicklung geriet dabei fast völlig aus dem Blick: der brummende Arbeitsmarkt. Der dortige Aufschwung fand seinen vorläufigen Höhepunkt im Februar, als die Arbeitslosenquote auf 6,8% sank. Das ist der niedrigste Wert seit Beginn der offiziellen Datenerhebung im Jahr 1998 und unseren Berechnungen zufolge sogar das tiefste Niveau seit mindestens 40 Jahren. Zugleich steigt die Zahl der offenen Stellen weiter stark an. Ende 2021 lag sie auf einem Rekordwert. Die Aussicht auf weitere Beschäftigungszuwächse bzw. einen fortgesetzten Rückgang der Arbeitslosenzahlen ist mithin äußerst günstig.

Behalten wir mit dieser Einschätzung recht, wird das nicht ohne Folgen für die Lohnentwicklung bleiben. Wir gehen davon aus, dass der Zuwachs der Tariflöhne in den nächsten ein bis zwei Jahren mindestens auf 3,0% anzieht und damit in die Nähe der bisherigen Höchstwerte kommt. Der tatsächliche Lohndruck dürfte sogar noch stärker zunehmen, als dies in den Tarifabschlüssen zum Ausdruck kommen wird. Das liegt zum einen an der teils massiven Anhebung des Mindestlohns in zahl-reichen Euro-Ländern und zum anderen an der erwarteten Entwicklung der Lohndrift.

Die Lohndrift ist die Differenz zwischen dem von den Tarifparteien vereinbarten Lohnzuwachs und dem tatsächlichen Lohnanstieg. Letzterer wird maßgeblich durch Bonuszahlungen, Überstundenzuschläge und weitere individuelle Gehaltsvereinbarungen beeinflusst. In der Regel ist die Lohndrift positiv mit der Auslastung des Arbeitsmarktes korreliert. Das heißt, je geringer die Arbeitslosigkeit, desto stärker positiv ist die Lohndrift, sprich desto mehr müssen die Unternehmen ihren Arbeitnehmern über den Tarif hinaus bieten.

Beim Thema Mindestlohn prescht Deutschland in diesem Jahr mit einer Erhöhung um 22% von aktuell 9,82 Euro auf 12 Euro ab Oktober vor. Im Jahresdurchschnitt ergibt sich ein Anstieg um rund 10%. Für die Eurozone zeichnet sich ein Zuwachs um 6% ab. Vor dem Hintergrund des aktuell starken Verbraucherpreisanstiegs ist davon auszugehen, dass der Mindestlohn 2023 noch stärker steigt. Wir rechnen für die Eurozone mit etwa 8%. Ein Indikator, der die effektiven Lohnkosten der Unternehmen besser abbildet, als die Tariflöhne das tun, ist das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer.

Die entsprechende Vorjahresrate war bereits Mitte 2016 auf einen erkennbaren Aufwärtstrend eingeschwenkt, nachdem der Zuwachs zuvor infolge der globalen Finanzkrise und der Eurokrise merklich gedämpft worden war. Ende 2021 lag das Plus bei 3,5%. Unter Ausklammerung der Folgen im Zuge des Coronaschocks ist dies das höchste Niveau seit dem dritten Quartal 2008 und das zweithöchste seit Beginn der Datenerhebung 1995.

Für die Unternehmen der Eurozone tut sich mithin eine zweite Kostenfront auf: Nachdem sie bereits unter den massiv gestiegenen Preisen für Rohstoffe, Vorprodukte und Transport leiden, werden ihre Lohnkosten spürbar stärker zunehmen als in den Jahren vor der Pandemie. Im Wettbewerb um (qualifizierte) Arbeitskräfte wird ihnen jedoch kaum etwas anderes übrig bleiben, als höhere Löhne zu zahlen. Die Unternehmen sind aktuell dabei, ihre im Zuge der Corona-Pandemie massiv gestiegenen Kosten auf die Konsumenten zu überwälzen. Gemäß den Einkaufsmanagerumfragen vom März heben so viele Unternehmen ihre Preise an wie noch nie zuvor seit Bestehen der Umfrage. Inzwischen trifft das nicht mehr nur auf Firmen in der Industrie zu, sondern auch auf Dienstleister.

Unter anderem deswegen wird die Kerninflationsrate – ohne Energie, Nahrungs- und Genussmittel – in der Eurozone in den kommenden Monaten auf Werte zwischen 3,5% und 4,0% klettern. Wir gehen davon aus, dass sich der Kostendruck in den nächsten Quartalen zumindest teilweise zurückbildet, beispielsweise bei den Energiepreisen und den Frachtkosten. Die Kerninflationsrate sollte daher wieder etwas nachgeben, die 2,0-%-Marke jedoch in absehbarer Zeit nicht unterschreiten. Im Jahresdurchschnitt 2023 und 2024 erwarten wir vor diesem Hintergrund einen Anstieg um mehr als 2,0%, nach 3,2% im laufenden Jahr.

Man darf sich von dieser Entwicklung aber nicht täuschen lassen. Zum einen ist der außergewöhnlich starke Anstieg in diesem Jahr durch Aufholeffekte im Zuge der Normalisierung der Konsumnachfrage getrieben. Zum anderen bedeuten auch Kerninflationsraten von dauerhaft mehr als 2,0% verglichen mit den zehn Jahren vor Ausbruch der Corona-Pandemie eine neue Inflationswelt. Zwischen 2010 und 2019 legte die Kerninflationsrate durchschnittlich nur um 1,1% pro Jahr zu. Bleibt die unterstellte Entlastung bei Rohstoffen, Vorprodukten, Frachtkosten etc. aus, könnte der unterliegende Preisauftrieb auch in den kommenden Jahren bei 3,0% liegen. Dann bestünde angesichts der angespannten Situation am Arbeitsmarkt die ernsthafte Gefahr des Entstehens einer Lohn-Preis-Spirale, da die Arbeitnehmer in Erwartung dauerhaft hoher Inflationsraten versuchen dürften, höhere Lohnabschlüsse durchzusetzen.

EZB wird reagieren

Die EZB wird auf das neue Inflationsregime mit einer merklichen Straffung der Geldpolitik reagieren und wohl noch in diesem Jahr damit beginnen, die Leitzinsen aus dem negativen Bereich nach oben zu führen. Nach zwei Zinsschritten beim Einlagensatz à 25 Basispunkte bis Ende 2022 dürften 2023 mindestens sechs weitere Anhebungen in gleicher Größenordnung folgen. Ziel sollte es sein, mindestens das neutrale Zinsniveau zu erreichen, das wir bei 1,5% bis 2,0% sehen. Kristallisiert sich tatsächlich eine Lohn-Preis-Spirale heraus, wird die Notenbank nicht umhinkommen, die Zinsen in restriktives Terrain zu führen.