Klimaschutz

Paradigmen­wechsel erfasst die Finanz­wirtschaft

Die Finanzbranche steht mit der Umstellung auf ESG-Reporting vor einer gigantischen Big-Data-Übung. Immer mehr Datenpunkte müssen erfasst und kategorisiert werden, um Compliance herzustellen. Vorneweg marschieren junge Fintech-Gründer, die sich voll und ganz dem Klimaschutz verschrieben haben.

Paradigmen­wechsel erfasst die Finanz­wirtschaft

Von Björn Godenrath, Frankfurt

Es gibt Dinge, über die braucht man heute im Grunde nicht mehr kontrovers zu diskutieren. So sollte es inzwischen unumstritten sein, dass bei der Dekarbonisierung des Planeten keine Zeit zu verlieren ist, auch wenn sich in den Modellen der Klimawissenschaftler reichlich Disclaimer finden, die auf die Unsicherheiten der Modelle verweisen. Die Menschheit hat das Zeitalter des Anthropozän erreicht, was bedeutet, dass menschliches Verhalten und seine Hinterlassenschaften in der Atmosphäre der dominierende Faktor für die Klimaentwicklung sind – und dass der sogenannte Kipppunkt, ab dem es nur noch abwärtsgehen kann, immer näher rückt, womit die Erde zum unbewohnbaren Planeten werden würde.

Dabei sind mögliche Kipppunkte singulär unterschiedlich zu beurteilen: Während die Gletscherschmelze, das Auftauen von Permafrostböden sowie der Algenschwund in den Ozeanen (die damit weniger Kohlenstoff/CO2-Emissionen aufnehmen) bewiesen sind, gibt es für die postulierte Abschwächung des Golfstroms bislang keine Evidenz. Zwar hatten Forscher schon vor über zehn Jahren erklärt, den Beweis für die Abschwächung des Golfstroms geliefert zu haben; es stellte sich jedoch heraus, dass die Messbojen nicht tief genug versenkt worden waren – der warme Golfstrom fließt in unterschiedlichen Tiefen.

Solche Unterscheidungen sind wichtig, wenn es darum geht, eine zielgerichtete akademische und gesellschaftliche Debatte zu führen, die dann in Politikempfehlungen für Klimamaßnahmen mündet – wobei das große Bild in der Bestandsaufnahme die Dringlichkeit primär auf CO2-Vermeidung lenkt als die Stellschraube, doch noch die Kurve zu kriegen. Dieser Handlungsdruck wird uns insbesondere von jungen Menschen vor Augen geführt, die alarmiert sind, weil sie fürchten, keine Zukunft zu haben auf einem von der Hitze verbrannten und von Wassermangel verdörrten Planeten. Diese von Greta Thunberg und ihren Mitstreiterinnen in Gang gesetzte Klimabewegung hat mit ihrer Vehemenz bewirkt, dass tatsächlich Tempo reingekommen ist in die politische und wirtschaftliche Umsetzung von Klimamaßnahmen – man spricht vom Greta-Effekt.

Und der wirkt hinein in alle Zweige der Industrie und der Finanzwirtschaft. Was nicht nachhaltig gestaltet werden kann, hat keine Zu­kunft. Da­für braucht es Regeln, die jedem einzelnen Bürger und je­dem Un­ter­neh­men so­wie den sie finanzierenden Banken vor Augen führen, welchen ökologischen Fußabdruck ihre Handlungen hinterlassen – verbunden mit marktgetriebenen Anreizen, vorgegebene Emissionsziele zu erreichen. Wer sich selbst als zielerfüllend in Sustainability (mit messbaren vergleichbaren Daten) darstellen kann, hat einen Wettbewerbsvorteil, denn die Masse der Konsumenten ist hinreichend sensibilisiert für solche Fragen beziehungsweise fordert so etwas offensiv ein. Das ist ein Paradigmenwechsel, der derzeit eine ungeheure Wucht entfaltet.

Realistische Ziele

Auf gesetzgeberischer Ebene hat sich Europa mit seiner Taxonomie-Regulierung an die Spitze des Fortschritts gestellt, auch wenn es noch Zoff gibt um die granulare Einstufung von Gas und Atomkraft als nachhaltig – wobei dies an Übergangsfristen gekoppelt ist und am Phase-out sowieso nicht gerüttelt werden kann: Es geht auch darum, dass wir den Übergang im Hier und Jetzt gestalten können und uns nicht mit unrealistischen Zielen suizidal verhalten. Die von der EU-Kommission Mitte 2020 ins Leben gerufene Taxonomie hat sechs Umweltziele definiert, die mit einem ersten „delegated act“ Anfang des Jahres in Kraft traten, ein zweiter „delegated act“ (inklusive des Streitpostens Atom) steht vor der Verabschiedung.

Mit der Taxonomie hat die Finanzwirtschaft nun ein Instrument an der Hand, das ein kennzahlenorientiertes Handeln erlaubt, um (rechenschaftspflichtig) Kapitalflüsse in ökologisch nachhaltige Aktivitäten zu lenken bzw. ihren Firmen- und Retailkunden Daten an die Hand zu geben, um taxonomiekonform zu sein. Nachhaltigkeits- und Finanzberichterstattung verschmelzen – dabei findet im Hintergrund eine gigantische Big-Data-Übung statt mit dem Tracken von Daten und ihrer Veredelung für kommerzielle Zwecke: Das ist das Spielfeld der Climate Fintechs, die sich nun als eigener Sektor formiert haben. Eine Be­stands­auf­nahme von Commerzventures zeigt, dass es heute knapp 300 solcher Start-ups in Europa und den USA gibt, die mit einem für Risikokapital relevanten Geschäftsmodell an den Markt gehen.

Dass Green Fintech heute seinen Durchbruch feiert, das zeigt ein Blick auf die Funding-Entwicklung: Während in den Vorjahren kumuliert nur 405 Mill. Dollar aufgenommen wurden, waren es im vergangenen Jahr 1,2 Mrd. Dollar. Dabei liegen europäischen Start-ups beim Volumen mit 624 Mill. Dollar sogar vor den US-Fintechs – ein Fingerzeig, dass Europas Entschlossenheit zur Bekämpfung des Klimawandels Kapital anzieht bzw. dass sich hier noch mehr inspirierte Gründer befinden, die alle auf den schwedischen Pionier Doconomy folgen.

Das spiegelt sich auch in der Anzahl der Fintechs wider: In Europa sind mit 228 viermal so viele aktiv wie in den USA, die dafür eher Later Stage sind und in einzelnen Tranchen höheres Funding erhalten. Neben dem 2015 gegründeten „Oldie“ Doconomy besteht der Sektor vor allem aus sehr jungen Unternehmen: 68 % sind in Pre-Seed oder Seed finanziert, arbeiten also an ersten Produkten und Markterschließung. Die meisten sind in „Carbon Offsetting“ tätig, gefolgt von „Carbon Accounting“, was dokumentiert, wo der Schwerpunkt in der Bekämpfung des Klimawandels liegt. Alle anderen Subsektoren wie Impact Investing und ESG-Reporting folgen mit großem Ab­stand (siehe Grafik).

Reporting der Schlüssel

Außerdem auffällig: B2B-Geschäftsmodelle erhielten mit 1 Mrd. Dollar deutlich mehr Kapital als B2C-Climate-Fintechs. ESG-Reporting ist dabei ein klassisches B2B-Modell, wenn zum Beispiel Datia eine Plattform für Sustainable Finance bereitstellt, die Analyse und Berichterstattung von ESG-Faktoren automatisiert. Bei dem, was an Datenmengen zu bewältigen ist, kommt automatisiertem Datenreporting eine Schlüsselrolle zu – wobei die Qualität der Datenerhebung immer am Anfang steht. Da liegen Defizite, bei denen sich aber schon Verbesserungen zeigen.

Für grüne Fintechs gilt es nun, das Momentum zu nutzen und sich in der Wertschöpfungskette von Climate Finance zu verankern. Alte und neue Finanzwirtschaft üben dabei längst den Schulterschluss: So nutzen Fintechs wie Doconomy S&P Trucost als Basis für ihren Datenstrom, der Banken per API-Schnittstelle zur Verfügung gestellt wird. S&P Trucost erfasst zum Beispiel auch die sogenannten Scope-Emissionen der Stufen 1 bis 3 nach Industriesektoren und kann dabei aufzeigen, wie viel fehlt, um die im Update des Pariser Abkommen vereinbarte Limitierung der Erderwärmung um 1,5 Grad zu erfüllen. Das ist mit immer granulareren Daten ein wichtiger Beitrag zur Transparenz, mit der sich dann gut auf Zielerfüllung in der Emissionen verursachenden Industrie pochen lässt. Das ist etwas, was Green-Fintech-Gründern am Herzen liegt: Denn auch wenn es natürlich Glücksritter gibt, die Trendhopping betreiben, handelt es sich doch in der Regel um Überzeugungstäter, die wirklich etwas bewegen wollen.

In den kommenden Wochen wird die Börsen-Zeitung in der neuen Serie „Green Fintech“ einige der neuen Protagonisten vorstellen, aber auch einen Blick auf vertikale Themen wie nachhaltige Geldanlage werfen und Experten zu Wort kommen lassen.

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