Nachhaltigkeit

Europas ESG-Finanzarchitektur steht unter Druck

Ab 22. November gelten neue Vorgaben aus Brüssel für Produktanbieter, Anlageberater und Vermögensverwalter. Die Umsetzung stellt die Betroffenen vor zahlreiche Herausforderungen.

Europas ESG-Finanzarchitektur steht unter Druck

Von Alexander Behrens und Niklas Germayer*)

Das Thema Nachhaltigkeit ist in aller Munde – auch und gerade im Bereich des Finanzwesens. Sustainable Fi­nance gewinnt immer mehr an Be­deutung und ist spätestens seit dem Inkrafttreten der europäischen Offenlegungsverordnung und der Taxonomieverordnung auch in rechtlicher Hinsicht spürbar. Kürzlich ist nun ein weiterer Baustein der europäischen Nachhaltigkeitsfinanzarchitektur hin­zugekommen: Ende November 2022 treten weitere ESG-spezifische Änderungen in der Regulierung von Produktherstellern, Anlageberatern und Vermögensverwaltern in Kraft – Anlass genug für eine Bestandsaufnahme und Zwischenbeurteilung.

Transparenz als Grundpfeiler

Die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels aus dem Pariser Klimaschutzabkommen stellt die Weltgemeinschaft vor große Herausforderungen. Nach Schätzungen der OECD sind bis 2030 Investitionen von rund 7 Bill. Euro jährlich nötig, um die Klima- und Entwicklungsziele zu verwirklichen – und selbst diese schwindelerregende Zahl dürfte angesichts aktueller Prognosen eher konservativ ge­schätzt sein.

Dieser Befund erklärt die Vielzahl an Vorgaben, die auf den Finanzsektor bezogen sind, auch wenn dieser selbst sicher keine zentrale Rolle bei klimaschädlichen Emissionen einnehmen dürfte: Um solche Summen verfügbar zu machen, müssen private Investitionen mit Hilfe der Finanzindustrie in nachhaltige Sektoren umgelenkt werden.

Um dies zu erreichen, wurden in den letzten Jahren verschiedene rechtliche Regelungen eingeführt. Funktional bilden dabei Transparenzanforderungen im weiteren Sinne den Grundpfeiler der neuen nachhaltigkeitsbezogenen Finanzarchitektur. Denn Transparenz, also ausreichend Informationen über die nachhaltigkeitsbezogenen Aspekte eines Investments, bildet die Grundvoraussetzung, um Investoren überhaupt ein an diesen Faktoren orientiertes Investment zu ermöglichen.

Hier setzt die Offenlegungsverordnung an. Sie verpflichtet insbesondere Institute, die Finanzprodukte herstellen oder auf Beratungsbasis vertreiben, zur Offenlegung bezüglich Nachhaltigkeitsthemen. Die Pflichten umfassen die Offenlegung sowohl auf Unternehmens- als auch auf Produktebene auf der Website, im vorvertraglichen Bereich und durch periodische Berichte.

Praktisch hängt der Grad an Offenlegungsanforderungen dabei von der Produktkategorisierung ab: Am höchsten sind die Offenlegungspflichten bei den sogenannten Art.-9-Produkten, die ein explizites Nachhaltigkeitsziel anstreben, wie etwa die Reduzierung von CO2-Emissionen, und daher auch als „dunkelgrüne“ Produkte bezeichnet werden. Eingesetzt wird also eine Art Nachhaltigkeitsscore, der ampelähnlich funktioniert – wie wir es bei Lebensmitteln und Elektrogeräten kennen.

Neben dieses Regelwerk tritt als weitere zentrale Säule die Taxonomieverordnung. Sie schafft ein einheitliches­ Klassifizierungssystem dafür, wann eine Wirtschaftstätigkeit als ökologisch nachhaltig verstanden wird. Sie soll als Referenzrahmen dienen für die verschiedenen Regelwerke, die schon oder zukünftig auf Nachhaltigkeitsbegriffe Bezug nehmen. Neben dem einheitlichen Klassifizierungssystem sieht sie Offenlegungspflichten vor, welche auch für kapitalmarktorientierte Nichtfinanzunternehmen gelten.

Was bislang noch ausstand, war eine Verzahnung der neuen Regulierung mit den schon bestehenden Vertriebsvorgaben für Wertpapierunternehmen unter der europäischen Finanzmarktrichtlinie Mifid. Nachdem seit August schon die Änderungen an der Mifid-Durchführungsverordnung gelten, finden ab dem 22. November 2022 die Änderungen an der delegierten Richtlinie zur Mifid Anwendung. Einen Big Bang gibt es hier nicht, aber Produkthersteller, Vermögensverwalter und Anlageberater müssen nun u. a. Nachhaltigkeitsziele in der Produktkonzeption beziehungsweise im Beratungsgeschäft berücksichtigen.

Je mehr das grüne Regelwerk im Finanzbereich somit auf der Ebene der Gesetzgebung Gestalt annimmt, umso deutlicher zeigen sich auch die Herausforderungen in der Praxis. So zeigt sich trotz hohen Interesses der Investoren an nachhaltigen Produkten bislang eine spürbare Zurückhaltung der Produkthersteller.

Warum das so ist, wird z. B. an den Art.-9-Produkten oder aber den taxonomiekonformen Produkten deutlich: Die Hersteller sind im Rahmen der Produktklassifizierung auf die Bereitstellung der Nachhaltigkeitsdaten auf Zielinvestitionsebene angewiesen, und ob diese zutreffend sind, lässt sich oft schlechterdings nur schwer beurteilen. Hinzu kommt Unsicherheit betreffend die Auslegung der neuen Regelungen.

Nun scheint (rechtliche) Unsicherheit bei der Umsetzung neuer Regulierungsvorgaben aus diversen Gründen immer öfter die Regel zu sein. Der Finanzindustrie bleibt hier oft schlicht keine Wahl, Vorgaben umzusetzen, die erst kurz zuvor erlassen wurden und deren Auslegung auch die Aufsicht vor Rätsel stellt.

Im ESG-Kontext kommen jedoch zwei Aspekte hinzu, die bei anderen Regulatory-Change-Projekten oft nicht auf dieselbe Weise relevant sind: Zum einen besteht angesichts der jüngsten Urteile im ESG-Bereich weithin die Sorge vor Greenwashing-Klagen; ein potenzieller Verstoß gegen aufsichtsrechtliche Vorgaben soll daher unbedingt vermieden werden. Zum anderen hat die Industrie – anders als in vielen anderen Fällen – im ESG-Bereich in verschiedener Hinsicht eine Wahl, z. B. „supergrüne“ Produkte anzubieten oder nicht. Die Aufsicht zwingt sie dazu nicht, treibend ist hier die Nachfrage der Investoren. Derzeit scheinen bei der Abwägung der rechtlichen Risiken „supergrüner“ Produkte mit deren Vertriebschancen bei vielen Anbietern noch die Sorgen zu überwiegen.

Dieser Befund perpetuiert sich auch im Bereich der neuen Mifid-Vorgaben: Vertriebsunternehmen und Produkthersteller müssen künftig Nachhaltigkeitsziele der Anleger berücksichtigen, doch der Begriff wurde von Brüssel nicht definiert. Hier mussten die nationalen Verbände mit einer eigenen Interpretation vorpreschen, die auf die Wünsche der Anleger abstellt, wie „grün“ die ihnen angebotenen Finanzprodukte sein sollen.

Trotz dieser Anstrengungen zeigt sich, dass der Markt bislang produktseitig nur Teile der möglichen Nachhaltigkeitspräferenzen der Kunden abdeckt, erneut zumindest auch aus Sorge vor unklaren Vorgaben und etwaigen Klagerisiken. Entsprechend sind „supergrüne“ Produkte nur schwer zu bekommen.

Erfolg im allseitigen Interesse

Eine unter Umständen noch essenziellere Herausforderung ist mit der derzeitigen Konjunkturentwicklung verbunden. Wie erwähnt beruht die nachhaltige Finanzarchitektur we­sentlich auf Transparenzvorgaben, in der Annahme, dass ausreichende In­formationen die Investitionsentscheidung häufig genug schon in die richtige Richtung lenken wird. In einem schwierigeren wirtschaftlichen Um­feld könnte dieser Ansatz aber nicht in ausreichendem Umfang zum gewünschten Ergebnis führen, nämlich wenn die Rendite „grüner“ Produkte hinter der Rendite konventioneller Produkte zurückbleiben sollte.

Dann würde Brüssel sich mit der Frage konfrontiert sehen, ob der auf Freiwilligkeit basierende Transparenzansatz nicht verschärft werden muss, z. B. durch höhere Eigenmittelvorgaben für „braune“ Produkte oder Produktverbote. Denn es dürfte unzweifelhaft sein, dass die Diskussion um effiziente Schritte zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels und dem dazu erforderlichen Investitionsvolumen in den nächsten Jahren mit neuen Hiobsbotschaften von der Wetterfront weiter Fahrt aufnehmen wird.

All dies droht zu weiteren Eingriffen und (noch) mehr Bürokratie zu führen. Daher dürfte es ein gemeinsames Ziel aller Beteiligten sein, den bisherigen Transparenzansatz zum Erfolg zu führen. Erreicht werden kann dies aber nur durch eine intensive Abstimmung zwischen Industrie, Gesetzgeber und Aufsichtsbehörden.

*) Dr. Alexander Behrens ist Partner und Niklas Germayer Associate von Allen & Overy in Frankfurt.