Julie Becker

„Gender Finance wird ein neuer Megatrend“

Julie Becker, Chefin der Luxemburger Börse LuxSE und Pionierin der grünen Börse des Großherzogtums, legt im Interview mit der Börsen-Zeitung dar, wo die Reise bei Green und Sustainable Finance hingeht.

„Gender Finance wird ein neuer Megatrend“

Kai Johannsen.

Frau Becker, die LGX besteht nun seit gut sechs Jahren. Was sind die größten erreichten Meilensteine?

Genau wie Sustainable Finance hat sich LGX in den vorigen sechs Jahren rasant entwickelt. Was als Plattform für grüne Anleihen begann, umfasst heute mehr als 3000 nachhaltige Wertpapiere, darunter grüne, soziale, nachhaltige und nachhaltigkeitsgebundene Anleihen sowie Anleihen von klimaorientierten Emittenten und nachhaltigen Investmentfonds. Dazu gehören beispielsweise die im Rahmen des EU-Sure-Programms 2020 und 2021 begebenen Social Bonds über 90 Mrd. Euro zum Schutz von Arbeitsplätzen und Arbeitnehmern in ganz Europa. Die Geschichte von LGX war von vielen verschiedenen Meilensteinen geprägt, aber ich möchte die Gründung der LGX Academy und des LGX DataHub im Jahr 2020 hervorheben.

Worauf zielen Sie damit ab?

Durch diese Entwicklungen gehen wir einige der wichtigsten Hindernisse für das nachhaltige Finanzwesen heute an, nämlich den Mangel an Finanzwissen in diesem Bereich und strukturierte Nachhaltigkeitsdaten. Die LGX wurde mit dem UN Global Climate Action Award 2020 für ihren Beitrag zur Beschleunigung der Finanzierung klimafreundlicher Investitionen ausgezeichnet, eine klare Anerkennung der positiven Auswirkungen, zu denen wir durch unsere Arbeit beitragen. In diesem Jahr betrachte ich unsere Zusammenarbeit mit UN Women im Bereich Gender Finance als einen unserer wichtigsten Meilensteine.

Wie viele grüne Anleihen sind jetzt bei LuxSE notiert und werden bei LGX geführt?

Trotz des stärkeren Interesses an der sozialen Dimension von Sustainable Finance sind Green Bonds weiterhin die führende Kategorie nachhaltiger Schuldtitel. Dies spiegelt sich auch bei LGX wider. Per 31. Oktober 2022 wurden 820 grüne Anleihen auf LGX geführt, wodurch insgesamt 366 Mrd. Euro für spezifische grüne Investitionen auf der ganzen Welt aufgebracht werden. 229 dieser Green Bonds wurden im Laufe dieses Jahres gelistet. Wenn wir uns die neuen Green Bonds ansehen, die seit Jahresbeginn gelistet werden, entspricht dies einem Rückgang von 12% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass wir in Bezug auf die Finanzierung, die durch diese neuen, in LGX enthaltenen grünen Anleihen im Jahr 2022 in Höhe von 93 Mrd. Euro aufgenommen wurde, einen Anstieg von 9% im Vergleich zum Vorjahr sehen. Dies bedeutet, dass wir 2022 weniger Emissionen bei grünen Anleihen sehen, jedoch mit durchschnittlich höheren Volumina.

Wie viele soziale, nachhaltige und nachhaltigkeitsgebundene Anleihen sind bei LuxSE notiert und werden bei LGX geführt?

Zum 30. Oktober 2022 gab es insgesamt 721 soziale, nachhaltige und nachhaltigkeitsgebundene Anleihen auf LGX, und 218 davon wurden 2022 gelistet. In Bezug auf soziale Anleihen haben wir 52 neue Titel auf LGX aufgenommen – eine Steigerung von 30% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In Bezug auf den durch diese Anleihen aufgebrachten Betrag sehen wir jedoch einen Rückgang von 75% im Vergleich zum Vorjahr. Dies bedeutet, dass in diesem Jahr mehr Social Bonds begeben werden, aber der durch diese Anleihen aufgebrachte Betrag ist im Vergleich zum Vorjahr im Durchschnitt geringer. Bei Nachhaltigkeitsanleihen sehen wir in diesem Jahr einen Anstieg von 24% in Bezug auf die Anzahl der auf LGX hinzugefügten Anleihen im Vorjahresvergleich bei einem ähnlichen Gesamtemissionsbetrag. Insgesamt sind derzeit 510 Nachhaltigkeitsanleihen auf LGX abgebildet.

Und bei den nachhaltigkeitsgebundenen Bonds?

Bei nachhaltigkeitsgebundenen An­leihen oder SLBs haben wir in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg der Anzahl der SLBs um 13% und einen Anstieg von 50% in Bezug auf den Betrag verzeichnet.

Wie viele Emittenten gibt es bei LGX, und aus wie vielen Ländern kommen sie?

Seit der Gründung von LGX 2016 haben wir ein exponentielles Wachstum in Umfang, Reichweite und Wirkung der Plattform erlebt. Heute zählt die LGX-Emittentengemeinschaft 260 Emittenten aus 52 Ländern weltweit. Die große Anzahl von Ländern, die durch Emittenten auf LGX vertreten sind, ist besonders wichtig, da wir bestrebt sind, dazu beizutragen, nachhaltige Finanzen wirklich global zu machen. Emittenten auf LGX repräsentieren eine Reihe verschiedener Sektoren, darunter staatliche, halbstaatliche und supranationale Emittenten, multilaterale Entwicklungsbanken, Finanzinstitute und Unternehmen aus verschiedenen Sektoren und Branchen.

Sind neue Instrumente für eine Notierung an der LGX geplant?

Nachhaltige Finanzen entwickeln sich schnell, und wir sehen einige interessante Produktentwicklungen in diesem Bereich. Ein neuer Trend, der uns dieses Jahr aufgefallen ist und von dem wir glauben, dass er ein neuer Megatrend werden wird, ist Gender Finance. Vereinfacht gesagt geht es bei Gender Finance darum, Kapitalströme auf Investitionsprojekte umzulenken, die zur Stärkung von Frauen sowie Mädchen und zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter weltweit beitragen. Im Mai dieses Jahres schloss die Luxemburger Börse eine Absichtserklärung mit UN Women ab, in der wir uns verpflichteten, bei der Förderung von Gender Finance und geschlechtsspezifischen Investitionen zusammenzuarbeiten. Als Teil dieser Ziele kennzeichnen wir jetzt geschlechtsspezifische Anleihen, die an der LuxSE notiert und bei LGX geführt werden, um es Anlegern zu erleichtern, Investitionsprojekte zu identifizieren, die zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter beitragen.

Was tun Sie für die Ausbildung von Marktteilnehmern im Bereich Green and Sustainable Finance?

2020 haben wir die LGX Academy gegründet, über die unsere internen Experten für nachhaltige Finanzen Kurse zu Standards, Labels und Produkten für nachhaltige Finanzen sowie zu geltenden Vorschriften und bewährten Marktpraktiken anbieten. Seitdem haben wir Hunderte von Kursteilnehmern aus der Finanzbranche, Anwaltskanzleien, Dienstleistungsunternehmen und öffentlichen Institutionen sowie Universitätsstudenten ausgebildet. Die Kursteilnehmer kommen aus vielen verschiedenen Ländern, einschließlich Schwellenländern.

Was war der Grund, die LGX Academy zu gründen?

Wir haben die LGX Academy gegründet, weil wir davon überzeugt sind, dass der Mangel an Finanzwissen im Bereich Nachhaltigkeit die Beschleunigung des nachhaltigen Finanzwesens behindert. Viele Marktteilnehmer würden sich gerne im Bereich Sustainable Finance engagieren, ihnen fehlt aber das nötige Wissen dafür. Das wollten wir mit der LGX Academy angehen. Wir sind gerade dabei, ein E-Learning-Tool zu entwickeln, das unsere normalen Gruppenkurse ergänzt, und wir freuen uns darauf, dieses E-Learning-Tool 2023 auf den Markt zu bringen.

Wo haben Sie Kooperationen bei Green und Sustainable Finance mit anderen Marktplätzen weltweit? Und was ist geplant?

Der Aufbau enger Beziehungen zu Börsen und anderen Marktteilnehmern in Schwellenländern ist uns seit vielen Jahren ein besonderes Anliegen. In diesem Jahr haben wir uns darauf konzentriert, unsere Zusammenarbeit mit Börsen in Afrika zu verstärken. Allein in diesem Jahr haben wir Absichtserklärungen und Kooperationsvereinbarungen mit den Börsen in Cabo Verde, Ruanda und mit BRVM, der regionalen Börse in Westafrika, die sich acht Länder teilen, unterzeichnet. Ziel dieser Vereinbarungen ist es, ihre Kräfte im Bereich nachhaltiger Finanzen zu bündeln und Börsen in Afrika dabei zu helfen, in ihren jeweiligen Ländern einen Markt für grüne Finanzen durch Wissensaustausch, Kapazitätsaufbau und technische Unterstützung aufzubauen. Im vergangenen Jahr haben wir außerdem Vereinbarungen mit zwei in Nigeria ansässigen Börsen unterzeichnet. Abgesehen von unserem Fokus auf Afrika haben wir in diesem Jahr auch eine engere Zusammenarbeit mit India INX entwickelt, was zur Doppelnotierung von grünen Anleihen indischer Emittenten an der LuxSE geführt hat.

Was sind Ihre nächsten Projekte für 2023?

2023 werden wir im Rahmen der LGX Academy einen ergänzenden E-Learning-Kurs entwickeln und die Reichweite des LGX DataHub weiter erhöhen. Wir erwarten, dass wir Anfang nächsten Jahres strukturierte Nachhaltigkeitsdaten zu 10000 börsennotierten nachhaltigen Anleihen anbieten können, was nahezu dem gesamten Universum der börsennotierten grünen, sozialen, nachhaltigen und nachhaltigkeitsgebundenen Anleihen der Welt entspricht. Wir werden auch die LGX Assistance Services weiterentwickeln, bei denen wir neuen Emittenten bei der Emission ihrer ersten nachhaltigen Anleihe oder bei der Verbesserung ihres Rahmenwerks oder ihrer Berichterstattung helfen.

Und darüber hinaus?

Wir werden unsere Arbeit mit UN Women fortsetzen, um Gender Finance zu fördern und zu erleichtern, und möglicherweise weitere strategische Partnerschaften mit Unternehmen und Institutionen eingehen, die unsere Prioritäten teilen. Wir werden auch dazu beitragen, nachhaltige Kapitalströme in Länder und Regionen umzulenken, in denen die Finanzierung am dringendsten benötigt wird. Darüber hinaus konzentrieren wir uns auf die eigenen Aspekte des Klimawandels von LuxSE und die Ziele, die wir im Rahmen unserer Verpflichtungen zur Agenda der Net Zero Financial Service Providers Alliance definiert haben. Unser Ziel ist es, alle unsere Emittenten auf ihrem Weg zu Netto-null über LGX hinaus zu unterstützen.

Was tun Sie, um die Märkte vor einem Green- oder Sustainable-Washing-Skandal zu bewahren?

Als wir LGX gründeten, machten wir freiwillige Richtlinien und Prinzipien für die Listings auf LGX verbindlich. Wir wussten, dass solche strengen Zulassungskriterien einige Emittenten davon abhalten könnten, ihre Green Bonds an unsere Börse zu bringen, aber wir wollten die Integrität des Green-Bond-Marktes schützen und Transparenz für Investoren gewährleisten. Emittenten auf LGX müssen ein hohes Maß an Transparenz in Bezug auf ihre Bonds und die durch die Erlöse aus der Anleihe finanzierten Projekte bieten und sich außerdem zu einer kontinuierlichen Berichterstattung verpflichten, damit Anleger überprüfen können, ob Emittenten ihre Versprechen halten. Die zusätzlichen Berichtspflichten und die externen Begutachtungen sorgen für Transparenz bei der Auswahl der Projekte und der Vergabe der eingeworbenen Mittel. Immer mehr Emittenten veröffentlichen auch Wirkungsberichte, die die konkreten grünen oder sozialen Ergebnisse beschreiben, die sich aus den Anleiheerlösen ergeben. Diese Transparenz durch Offenlegung und Berichterstattung ist der beste Schutz vor Greenwashing, da sie bedeutet, Transparenz über potenzielle Reputationsrisiken zu schaffen.

Wie groß ist das Risiko eines Greenwashing-Skandals?

Bei nachhaltigen Schuldtiteln halten wir das Risiko eines Washing-Skandals für begrenzt. International anerkannte Standards für die Emission nachhaltiger Anleihen wie die ICMA-Prinzipien helfen, Prozesse und Anforderungen zu rationalisieren. Die Transparenz ist bei nachhaltigen Bonds dank laufender Berichterstattung und externer Überprüfung generell hoch. Das Greenwashing-Risiko ist wahrscheinlich höher bei anderen Arten von Finanzinstrumenten, bei denen es an Offenlegung und Transparenz mangelt. Allerdings adressieren neue Vorschriften und Meldepflichten diesen Punkt.

Das heißt?

In diesem Jahr haben die Aufsichtsbehörden mehrere Finanzinstitute aufgrund von Greenwashing-Behauptungen bestraft. Dies zeigt, dass mit Greenwashing sowohl finanzielle Folgen als auch Reputationsrisiken verbunden sind, und dies wird andere wahrscheinlich davon abhalten, die Umweltfreundlichkeit eines Produkts oder einer Investition auf irreführende Weise zu fördern.

Welchen Evolutionsprozess in Sachen Nachhaltigkeit erwarten Sie für die nächsten Jahre?

2022 war geprägt vom Krieg in der Ukraine, der Krise steigender Lebenshaltungskosten, steigenden Zinsen und den Herausforderungen im Zusammenhang mit der Energiesicherheit im neuen geopolitischen Umfeld. Bis zu einem gewissen Grad wurde der Fokus auf Nachhaltigkeit auf der Prioritätenliste sowohl von Regierungen als auch von Unternehmen nach unten verschoben, während sie sich mit anderen, scheinbar dringlicheren Themen befassen. Wir glauben, dass sich das ändern wird und dass Nachhaltigkeit wieder in den Mittelpunkt gerückt wird.

Das heißt für die Klimakrise?

Die Klimakrise wird nicht von allein verschwinden, und die Folgen der globalen Erwärmung und eines sich schnell ändernden Klimas werden wahrscheinlich verheerend sein. Aus diesem Grund müssen wir massive Kapitalbeträge mobilisieren und diese Kapitalströme in Projekte lenken, die eine nachhaltige Entwicklung sicherstellen und dazu beitragen, den Klimawandel auf der ganzen Welt zu aufzuhalten. Die EU hat eine ehrgeizige grüne Agenda, und der neue Regulierungsrahmen wurde entwickelt, um zur Erreichung dieser Ziele beizutragen. Der Fokus auf Nachhaltigkeit und nachhaltige Finanzen ist gekommen, um zu bleiben.

Was wünschen Sie sich für 2030?

In erster Linie wünsche ich mir, dass die Weltgemeinschaft endlich die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung erfüllt und dass die Welt nachhaltiger und integrativer wird als heute. Ich hoffe auch, dass sich Länder, Unternehmen und auch Einzelpersonen zusammengeschlossen haben, um die globale Erwärmung einzudämmen, und dass die Sicherung eines gerechten Übergangs zu einer grüneren Welt zu einer globalen Priorität geworden ist.

Was ist die Voraussetzung dafür?

Damit dies geschehen kann, muss die Finanzierung standardmäßig nachhaltig werden. Wir müssen unsere Finanzsysteme in nachhaltigere Modelle umwandeln, die die Transformation der Realwirtschaft in eine nachhaltige Zukunft unterstützen und den Übergang finanzieren, ohne dabei jemanden zurückzulassen. Für 2030 wünsche ich mir vor allem, dass Menschen und Länder in Frieden leben und zusammenarbeiten, um gemeinsame Lösungen für globale Herausforderungen zu finden und gesellschaftlichen Wohlstand für alle zu sichern.

Das Interview führte

BZ+
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