Finanzmärkte

„Turbulenzen bleiben noch eine Weile erhalten“

Nach Einschätzung von Roxane Spitznagel, Ökonomin von Vanguard, werden sich die Finanzmärkte weiter in schwierigen Fahrwassern bewegen. Die Ertragsaussichten haben sich auf der Basis der gedrückten Bewertungen für Aktien und Anleihen aber erhöht.

„Turbulenzen bleiben noch eine Weile erhalten“

Christopher Kalbhenn.

Frau Spitznagel, seit dem Beginn des Ukraine-Krieges befinden sich die Finanzmärkte in Turbulenzen. Wie lange könnte das Ihrer Einschätzung nach anhalten?

Die Turbulenzen bleiben uns noch eine Weile erhalten. Drei Dinge bereiten den Märkten derzeit Sorgen: die Inflation, die Rezessionsgefahr und die Volatilität. Durch den Energiepreisschock ist die Inflation stark gestiegen. Er kam zu einem Zeitpunkt, als sie schon begonnen hatte zu steigen. In der Folge haben die Zentralbanken den Kampf gegen die Inflation beschleunigt, worauf die Märkte reagiert haben. Höhere Zinserwartungen haben im ersten Halbjahr zu negativen Erträgen von Aktien und Anleihen geführt. Die Marktteilnehmer befürchten, dass die höheren Zinsen zu einer Rezession führen werden.

Was kann man auf den gedrückten Niveaus nun in puncto künftiger Performance erwarten?

Die Kehrseite der Medaille ist eine gute Nachricht. Aufgrund der niedrigeren Bewertungen haben sich unsere Renditeprognosen für Aktien und Anleihen für die nächsten zehn Jahre in Euro gerechnet um 2 Prozentpunkte p.a. erhöht, für Aktien der Eurozone auf eine Spannweite von 4,3% bis 6,3%, für globale Aktien ohne die Eurozone auf 3,1% bis 5,3%.

Warum haben Sie für europäische Aktien höhere Ertragserwartungen als für globale Aktien?

Das hat mit dem fairen Wert zu tun. Anfang 2022 waren US-Aktien, welche einen Großteil der globalen Aktien ausmachen, stark überbewertet, übertroffen nur von der Dotcom-Blase. Diese Überbewertung ist nun geschlossen worden. US-Aktien sind nach wie vor hoch bewertet. Aktien der Eurozone sind relativ zum fairen Wert niedriger bewertet als amerikanische.

Wie wirken die höheren Zinsen auf einzelne Marktsegmente?

Die höheren Zinsen haben vor allem Growth-Aktien zugesetzt, weniger den Value-Aktien. Ende 2021 war unsere Prognose, dass Value-Aktien Growth-Werte outperformen würden. Jetzt ist der zu erwartende Ertrag von Value und Growth unserer Einschätzung nach gleich.

Wie sehen die konjunkturellen Seiten der USA und des Euroraums aus?

Wir gehen für beide Regionen von einer Rezession im nächsten Jahr aus. Aber die Treiber sind unterschiedlich. Für den Euroraum veranschlagen wir die Rezessionswahrscheinlichkeit mit 80%. Hintergrund ist die geopolitische Lage. Getrieben von den Energiepreisen steigt die Inflation, was Risiken für die Konsumenten- und Unternehmensausgaben birgt. Für die USA sehen wir eine Rezessionswahrscheinlichkeit von 65%. Hauptrisiko ist hier nicht die geopolitische Situation, sondern die Zinserhöhungen der Fed. Die USA sind weniger abhängig von russischer Energie und zudem einer der drei größten Produzenten von Öl und Gas. Diese unterschiedliche Abhängigkeit von Russland ist ein wichtiger Faktor für die Divergenz in unserem Makroausblick.

Wie werden sich Inflation und Zinsen weiterentwickeln?

In den USA hat die Inflation bereits den Höhepunkt erreicht, im Euroraum wird das erst im vierten Quartal 2022 mit einer Rate von etwa 11 bis 12% der Fall sein. Im August lag die US-Inflation bei 8,3%, in der Kernrate hat man gesehen, dass sie sich nach wie vor ausbreitet. Deswegen sagen wir weitere aggressivere Leitzinsanhebungen voraus. Der Hochpunkt beim US-Leitzins wird nächstes Jahr mit 4,5% bis 4,75% erreicht werden.

Steht eine Stagflation wie in den 70er Jahren bevor?

Eine Stagflation ist üblicherweise durch schwaches Wirtschaftswachstum, hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Das aktuelle Umfeld unterscheidet sich davon, denn es gibt keine hohe Arbeitslosigkeit. Der US-Arbeitsmarkt ist sehr stark, es gibt einen hohen Lohndruck und es werden weiter Stellen geschaffen. Unser Hauptpunkt ist: Die Rezession, die wir erwarten, wird sich von der Art her von vorangegangenen Rezessionen unterscheiden. Während Corona hatten wir eine V-förmige Erholung, in den frühen 2000ern hatten wir eine „jobless recovery“, bei der sich die Wirtschaft erholt hat, der Arbeitsmarkt aber nur sehr langsam. Dieses Mal sehen wir eine „jobfull recession“. Wir sehen eine Rezession, glauben aber nicht, dass die Arbeitslosenrate auf mehr als 5% steigen wird.

Was erwarten Sie von der Europäischen Zentralbank?

Die EZB hat wie die Fed klargemacht, dass die Inflation jetzt ihre Hauptsorge ist und sie den Zins anheben wird, bis die Inflation eingedämmt ist, selbst wenn dies mit gewissen Kosten für die Wirtschaft verbunden ist. Der Höchstwert des Einlagensatzes wird unsere Meinung nach im ersten Quartal 2023 bei 2,5% erreicht. Anschließend wird der Satz bis Ende 2023 dort bleiben. Wir glauben, dass die EZB dann zum neutralen Zinsniveau zurückkehren wird, das wir bei etwa 1,5% bis 2% sehen. In den USA sehen wir den neutralen Zins bei etwa 2,5%. Unsere Leitzinsprognosen liegen im restriktiven Bereich. Wir glauben, dass diese Zins­er­höhungen notwendig sind, um die Glaubwürdigkeit zu bewahren und eine Lohn-Preis-Spirale zu vermeiden.

Wie wird sich die Rendite der zehnjährigen Treasuries Ihrer Einschätzung nach entwickeln?

In der Theorie ist die langfristige Rendite ein gewichteter Durchschnitt der kurzfristigen Zinssätze, plus ein Term Premium. Die Summe kann man gut ausrechnen. Die Frage ist jedoch, was mit dem Term Premium passiert. Es wird von den Bilanzen der Zentralbanken beeinflusst, und hier ist nach dem Ende des Quantitative Easing die Frage, wann das Quantitative Tightening, der Abbau der Bilanzen, beginnt. Die Fed hat im Juni angefangen, im September hat sie die maximale monatliche Reduktion auf 60 Mrd. Dollar bei den Treasuries und 35 Mrd. Dollar bei den Mortgage Backed Securities erhöht. Die Frage ist, was für einen Einfluss das auf die Treasuries hat. Die Meinungen gehen auseinander, weil das mit viel Unsicherheit behaftet ist.

Warum ist das so?

Die Einschätzung der Wirkung des Quantitative Tightening ist mit viel Unsicherheit verbunden, weil es kaum historische Erfahrungen gibt. Deswegen haben die Zentralbanken klargemacht, dass der Zins das wichtigste Instrument bleibt. Wichtig ist, dass es gut kommuniziert wird, um möglichst einen Schock zu vermeiden. Dies ist notwendig, um die Volatilität nicht unnötig zu ver­stärken.

Das Interview führte

BZ+
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