Im InterviewCarsten Brzeski, ING

„Ich wäre bei den Zinserhöhungen nicht so weit gegangen“

Die Inflation wäre 2023 auch ohne die Zinserhöhungen der EZB stark zurückgegangen, sagt ING-Chefökonom Carsten Brzeski. Weshalb er das glaubt, wieso der Kurs der Notenbank im Grundsatz dennoch richtig war und welche Geldpolitik er 2024 für nötig hält, erklärt Brzeski im Interview.

„Ich wäre bei den Zinserhöhungen nicht so weit gegangen“

Im Interview: Carsten Brzeski

„Der Zeitpunkt der Ankündigung ist seltsam“

ING-Chefvolkswirt Brzeski über das Anleihekaufprogramm PEPP und Zinssenkungen der EZB im kommenden Jahr

Die Inflation wäre 2023 auch ohne die Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank (EZB) stark zurückgegangen, sagt ING-Chefökonom Carsten Brzeski. Weshalb er das glaubt, wieso der Kurs der Notenbank im Grundsatz dennoch richtig war und welche Geldpolitik er 2024 für nötig hält, erklärt der Volkswirt im Interview der Börsen-Zeitung.

Carsten Brzeski ist seit März 2013 Chefvolkswirt für Deutschland und Österreich der ING. Er analysiert regelmäßig wirtschaftliche und politische Entwicklungen in Deutschland und Europa, einschließlich der Geldpolitik der EZB.

Herr Brzeski, EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat am Donnerstag erneut vergeblich versucht, die Hoffnungen der Märkte auf Zinssenkungen im Frühjahr zu zerstreuen. Weshalb gelingt ihr das nicht?

Es ist schwierig, die Finanzmärkte von einem eingeschlagenen Weg abzubringen, das braucht Zeit. Zudem kommt, dass Lagarde keine überzeugende Sprache findet. Auf die Frage eines Journalisten, ob sie widerlegen kann, dass die EZB, wie von den Märkten erwartet, 2024 sechsmal die Zinsen senkt, hat sie keine klaren Worte gewählt, sondern ist in der Kommunikation untergetaucht.

Wann rechnen Sie mit einer ersten Zinssenkung der EZB?

Wir erwarten weiterhin die erste Zinssenkung im Juni. Die Sitzung am Donnerstag hat es in unserer Ansicht bestärkt, dass die EZB dies für einen guten Zeitpunkt hält.

Höre ich da heraus, dass Sie eine frühere Lockerung besser fänden?

Wir sind pessimistischer als die EZB, was das Wirtschaftswachstum der Eurozone betrifft. Unsere Prognose liegt bei 0,4% für das kommende Jahr, die der EZB bei 0,8%. Daher wäre ich auch nicht so weit mit den Zinserhöhungen gegangen und hätte 50 Basispunkte früher aufgehört. Jetzt halte ich eine erste Zinssenkung ein, zwei Monate vor Juni für angebracht.

Die Konjunkturprognose halten Sie für zu optimistisch. Wie sieht es bei der Inflation aus?

Da unterscheiden wir uns nicht. Ich rechne auch mit 2 bis 3% in 2024 und etwa 2% in 2025.

In ihrem Podcast haben Sie gesagt, dass bei den Zinssenkungen die Kommunikation der EZB im Sinne von Forward Guidance wichtig werden wird. Welchen Rat haben Sie an die Notenbank?

Sie sollte deutlich kommunizieren, was ihre Kriterien für Zinssenkungen sind. Aktuell ist das für Beobachter eher ein Gestocher im Nebel. Was braucht die EZB genau, um Zinssenkungen einzuleiten? Wie müssen beispielsweise die Lohndaten oder die langfristigen Inflationsprognosen genau ausfallen, dass sie für die EZB ein Zeichen sind zu lockern.

Sie vertreten die Ansicht, dass die Inflation auch ohne die Zinserhöhungen der EZB 2023 stark zurückgegangen wäre. Weshalb kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Der bisherige Rückgang der Inflation ist kaum ein Erfolg der EZB. Er ist vor allem auf Basiseffekte zurückzuführen, die auch ohne Zinserhöhungen eingetreten wären. Der volle Effekt der Zinserhöhungen auf die Inflation tritt erst noch ein.

Das heißt, die Auswirkungen der geringeren Kreditvergabe, die eindeutig eine Folge der höheren Zinsen sind, sehen Sie noch nicht in den Inflationsdaten.

Genau, die wirken sich erst noch aus und führen dazu, dass die Inflation bis 2025 wieder auf rund 2% sinken wird.

Selbst wenn man Ihre Einschätzung teilt, dass die Inflation in diesem Jahr sowieso zurückgegangen wäre: Die EZB muss doch bei einer im Höhepunkt zweistelligen Inflationsrate die Zinsen deutlich erhöhen.

Definitiv, allein schon wegen der psychologischen Effekte der Geldpolitik gab es keine andere Möglichkeit. Sonst hätte sie, was das Mandat der Preisstabilität betrifft, keinerlei Glaubwürdigkeit mehr. Die EZB hat mit den Zinserhöhungen richtig gehandelt. Ob das Ausmaß und der Zeitpunkt der Zinserhöhungen richtig war, darüber lässt sich streiten.

Ein anderes Thema des Zinsentscheides waren die Änderungen beim Anleihekaufprogramm PEPP. Ist die Reduktion der Reinvestitionen ab Juli 2024 für Sie der richtige Schritt?

Ja, die Normalisierung bei der EZB-Bilanz ist richtig. Der Zeitpunkt der Ankündigung ist jedoch seltsam und lässt Raum für Spekulationen.

Und wie sehen denn Ihre Spekulationen in Bezug auf die EZB-Bilanz aus?

Mir kommen zwei Möglichkeiten in den Sinn. Es könnte ein Kuhhandel für die Falken sein. Die EZB erhöht das Tempo beim Bilanzabbau, dafür setzen sich die Tauben beim Zeitpunkt der ersten Zinssenkung durch. Oder im Rat waren Mitglieder für eine weitere Zinserhöhung im Dezember, und weil sie sich damit nicht durchsetzen konnten, haben sie die Änderungen bei PEPP bekommen.

Nächstes Jahr wird eine mögliche Erhöhung der Mindestreserve für Geschäftsbanken ein Thema bei der EZB werden. Womit rechnen Sie?

Darüber dürfte bei der Überprüfung des EZB-Rahmenwerks entschieden werden, die mutmaßlich im Frühling sein wird. Ich gehe von einer Erhöhung von 1 auf 2% aus. Das ist der Wert, den die Mindestreserve vor den ganzen Krisen hatte.

Werfen wir noch einen Blick über den Atlantik. Die Fed hat bei ihrem Zinsentscheid am Mittwoch weniger restriktive Töne angeschlagen als die EZB am Donnerstag. Was sind die Gründe hierfür?

Die Fed bereitet sich auf eine Abkühlung der Wirtschaft vor. Die Lage am Arbeitsmarkt trübt sich ein und das Land steuert auf eine Rezession in der ersten Jahreshälfte 2024 zu.

Sollte die Fed wegen der wirtschaftlichen Entwicklung früh im kommenden Jahr die Zinsen senken, welche Auswirkungen hätte das auf die EZB?

Bereits jetzt führen diese Aussichten dazu, dass die Kapitalmarktzinsen nicht nur in den USA sinken, sondern weltweit. Diese aus Sicht der EZB ungewollte Lockerung verstärkt den Inflationsdruck in der Eurozone. Gleichzeitig schwächen Zinssenkungen der Fed den Dollar gegenüber dem Euro, was wachstumshemmend für die Eurozone ist. Wir haben also zwei gegenläufige Entwicklungen. Es gibt keinen Automatismus dafür, wie eine frühere Zinssenkung der Fed die Geldpolitik der EZB beeinflusst.

Das Interview führte Martin Pirkl.

Der Interviewte: Carsten Brzeski ist seit März 2013 Chefvolkswirt für Deutschland und Österreich der ING. Er analysiert regelmäßig wirtschaftliche und politische Entwicklungen in Deutschland und Europa, einschließlich der Geldpolitik der EZB.