Stefan Körzell

„Ein minimal­invasiver Eingriff“

Für DGB-Vorstand Stefan Körzell ist die Erhöhung des Mindestlohns die richtige Entscheidung – und längst überfällig. Im Interview der Börsen-Zeitung spricht er über die Tarifautonomie in Deutschland und die steigende Inflation.

„Ein minimal­invasiver Eingriff“

Anna Steiner.

Herr Körzell, der Mindestlohn soll zum 1. Oktober auf 12 Euro steigen. Ist das angemessen?

Ja, weil der Einstieg in 2015 mit 8,50 Euro zu niedrig war. Das wird jetzt einmalig korrigiert.

Ist der Zeitpunkt für eine Erhöhung des Mindestlohns um weitere 1,55 Euro der richtige? Immerhin erholt sich die deutsche Wirtschaft gerade erst langsam von der Corona-Pandemie.

Wir haben uns 2020 in der Mindestlohn-Kommission ganz bewusst zurückgehalten, weil die Coronakrise damals ihren Anfang nahm. Die Folge waren vier Erhöhungsschritte, mit einer zuerst niedrigen Anpassung auf 9,50 Euro zum 1. Januar 2021 – dafür sind wir damals sehr gescholten worden. Aber der letzte Schritt sollte ein deutliches Signal in die Zweistelligkeit setzen. So sind dann die 10,45 Euro entstanden, die ab kommenden Juli gelten. 12 Euro waren damals in der Mindestlohn-Kommission nicht mehrheitsfähig. Deswegen greift jetzt die Politik ein. Überall da, wo sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht freiwillig einigen, muss der Gesetzgeber irgendwann neue Leitplanken setzen. Das ist gerechtfertigt – und es ist auch finanzierbar.

Viele Verbände kritisieren, dass die Regierung die unabhängige Mindestlohn-Kommission mit ihrem Vorstoß untergrabe. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Es beklagen sich doch jetzt vor allem die Arbeitgeberverbände oder auch die Agrarverbände, die in der Vergangenheit nach der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 nicht dafür bekannt waren, Tarifverträge abzuschließen, die zu guten Löhnen führen. Jetzt geht es um einen minimalinvasiven Eingriff in das Mindestlohngesetz, indem man einmal die Höhe des Mindestlohns politisch festlegt und dann das Verfahren zurückgibt in die Hände der Mindestlohn-Kommission.

Wäre es nicht dennoch sinnvoll, besonders von der Coronakrise gebeutelte Branchen zumindest temporär noch von einem erhöhten Mindestlohn auszunehmen?

Nein. Erstens hat das Mindestlohngesetz immer einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn festgelegt, der in Ost und West, in Nord und Süd und für alle Branchen gilt. Zweitens wissen wir, je mehr Ausnahmen es gibt, desto höher sind die Umgehungstatbestände und das wäre kaum noch zu kontrollieren, wenn man den Zoll fragt.

Wird sich die Erhöhung auf die Beschäftigung auswirken?

Allen Unkenrufen zum Trotz – und das kennen wir ja schon zur Genüge aus der Zeit, als der Mindestlohn eingeführt wurde – Beschäftigungsverluste sind nicht zu erwarten. Solche Prognosen waren schon damals falsch – und sie sind es auch heute noch.

Einige Branchen fürchten, dass 12 Euro Mindestlohn den Fachkräftemangel verschärfen könnten, da eine Lehre unattraktiver wird, wenn es für Ungelernte 12 Euro pro Stunde gibt. Sehen Sie diese Gefahr?

Überhaupt nicht. Woran es mangelt, sind Ausbildungsplätze. Das ist in der Pandemie trotz staatlicher Hilfe massiv zurückgefahren worden. Die Unternehmen, die jetzt nicht in Ausbildung investieren – auch in Jugendliche, die nicht alle Abitur haben, sondern „nur“ einen guten Hauptschulabschluss –, die gefährden ihre Zukunft.

Sie meinen, es gäbe eigentlich genug Fachkräfte?

Wir haben beim Mindestlohn schon seit Einführung eine Ausnahme für die Unter-18-Jährigen. Die gibt es nach wie vor: Für sie gilt der Mindestlohn nicht. Schon nach der Einführung haben die Arbeitgeber gesagt, dass Unter-18-Jährige auf keinen Fall den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn erhalten dürfen, weil die dann lieber direkt arbeiten gehen. Ich erlebe, dass die Leute gerne eine Ausbildung machen würden, aber die Arbeitgeber machen nur noch Bestenauslese und beschweren sich dann, dass Fachkräfte fehlen. Das ist ein riesiges Problem.

In der Coronakrise gab es aber ja nicht nur weniger Lehrstellen, sondern auch weniger Bewerber.

Nichtsdestotrotz haben wir weit über 2,1 Millionen Jugendliche und junge Erwachsene unter 35 Jahren, die keine Ausbildung haben und nicht auf eine Universität gehen. Es geht auch darum, sich ihnen zuzuwenden und zu sagen: Wir geben euch eine Chance. Wer den Fachkräftemangel beheben will, kommt an der betrieblichen Ausbildung nicht vorbei.

Wäre es nicht sinnvoll, auch die Ausbildungsgehälter weiter anzuheben?

Selbstverständlich. Deswegen gibt es ja inzwischen eine Mindestausbildungsvergütung, die in der letzten Legislaturperiode eingeführt worden ist. Auch sie steigt übrigens weiter. Auch sie wurde ja deshalb eingeführt, weil über Jahre hinweg Tarifflucht betrieben wurde und weil in manchen Branchen jahrelang die Ausbildungsvergütungen nicht angehoben wurden.

Besonders von Seite der Arbeitgeber wird nun kritisiert, dass der neue Mindestlohn die Tarifautonomie unterhöhle. Wie sehen Sie das?

All die, die jetzt jammern, sind diejenigen, die durch Tarifflucht oder durch die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung dazu beigetragen haben, dass der Gesetzgeber jetzt eingreift.

Die Inflation in Deutschland ist so hoch wie lange nicht. Erste Ökonomen befürchten eine Lohn-Preis-Spirale. Sehen Sie diese Gefahr?

Nein, diese Gefahr sehen wir nicht. Nach Berechnungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) ist es so, dass die Inflationsrate insgesamt nur um 0,25 Prozentpunkte steigen wird durch die Einführung des Mindestlohns. Wer jetzt sagt, der Mindestlohn sei schuld an der steigenden Inflation, der will den Mindestlohn diskreditieren. Hier gibt es doch ganz andere Effekte, die die Inflation treiben – denken sie nur an die vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer oder an die Energiepreise. Und wie wäre es denn, mal darüber zu reden, ob Unternehmen, die im Moment Supergewinne machen, nicht die Preise senken sollten. Diese Debatte jetzt ausgerechnet bei denen anzusetzen, die am unteren Rand der Einkommensskala stehen, ist falsch. Damit will man den Mindestlohn nur diskreditieren.

Die Fragen stellte

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