Wahlen in der EU

Längst nicht immer business as usual

Der Regierungswechsel in einem der 27 EU-Länder bleibt in Brüssel oft eine Randnotiz. Bei Wahlen in gut einer Handvoll Ländern herrscht in den EU-Institutionen allerdings erhöhte Alarmbereitschaft, weil sie massiven Einfluss auf die europäische Politik nehmen können – im Positiven wie im Negativen.

Längst nicht immer business as usual

Von Andreas Heitker, Brüssel

Wer in den EU-Institutionen nach den europapolitischen Auswirkungen einer jeweils anstehenden nationalen Wahl fragt, erhält üblicherweise eine Standardantwort: Immer sei irgendwo in der EU eine Wahl, heißt es dann. Darauf könne man im Brüsseler Gesetzgebungsalltag keine Rücksicht nehmen.

Die Antwort hat den Vorteil, neutral bleiben zu können, und ist sicherlich in der Mehrheit der Fälle sogar korrekt. Würde die EU-Kommission bei der Vorlage neuer Richtlinien-Vorschläge immer auf die Ergebnisse der nächsten Wahl und die Bildung einer neuen Regierung in einem der 27 Mitgliedstaaten warten, wäre die Brüsseler Maschinerie schnell stillgelegt. Dass etwa in Bulgarien oder Tschechien Ende 2021 neue Regierungen an den Start gegangen sind, wurde in der EU nur am Rande wahrgenommen.

Andererseits ist aber auch klar, dass jeder neue Staats- oder Regierungschef in der Union auch ein wenig die politischen Machtverhältnisse im Europäischen Rat verschieben kann. Und für mehr als eine Handvoll Länder gilt zudem auch in Brüssel eine erhöhte Alarmstufe, weil sich hier Wahlen ganz unmittelbar auf Ausrichtung und Prioritäten der europäischen Politik auswirken können. Zu diesen Ländern gehören die großen Euro-Staaten, aber auch kleinere Länder mit speziellen Belangen oder Konflikten wie aktuell etwa Ungarn. Wollte jemand bestreiten, dass es die Statik der EU insgesamt verändern würde, wenn die Rechtsextreme Marine Le Pen in wenigen Monaten den äußerst europafreundlichen aktuellen französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Amt ablösen würde?

Populistische Machtproben

Welche Auswirkungen – in diesem Fall positive – Machtverschiebungen in einem der EU-Mitgliedstaaten auch für Brüssel haben können, hat etwa das Beispiel Italien in den vergangenen Jahren eindrucksvoll demonstriert. Noch im Herbst 2018 hatte der damalige Vizepremier und Chef der rechten Lega, Matteo Salvini, einen Konflikt provoziert, der die EU-Kommission und die gesamte Eurozone monatelang in Atem gehalten hatte. Der in Brüssel vorgelegte Haushaltsentwurf für das kommende Jahr enthielt nach Einschätzung der Experten nämlich noch nie dagewesene Abweichungen von den Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, so dass die EU-Kommission zum ersten Mal überhaupt den Budgetentwurf einer nationalen Regierung zurückweisen und kurzfristig eine umfassende Überarbeitung verlangen musste.

Auch Polen im Fokus

Es war eine dieser klassischen Machtdemonstrationen gegenüber Brüsseler Regeln, mit denen nationalkonservative oder populistische Politiker so gerne beim heimischen Wahlvolk zu punkten versuchen. In eine ähnliche Kategorie fällt derzeit ja auch das nicht enden wollende Kräftemessen in Sachen Rechtsstaatlichkeit, das sich die Regierungen in Warschau und Budapest mit der EU-Kommission leisten. Während die nächsten polnischen Wahlen, in denen der frühere EU-Ratspräsident Donald Tusk als Hoffnungsträger der Europafreunde antreten will, aber noch auf sich warten lassen, könnte Ungarn bald tatsächlich vor einer Zeitenwende stehen. Der Oppositionskandidat Péter Márki-Zay, dem durchaus gute Chancen bei dem Urnengang Anfang April zugestanden werden, hat in dieser Woche sogar schon die Einführung des Euro innerhalb von fünf Jahren als Ziel ausgerufen.

Matteo Salvini ist in Brüssel dagegen mittlerweile schon fast wieder vergessen. Und dass der heutige Ministerpräsident Mario Draghi zu­sammen mit Macron zum wohl einflussreichsten Politiker in der EU aufsteigen konnte, hat wohl auch mit seinem proeuropäischen Kurs und seinem Umgang mit den vielen Milliarden aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu tun, für den dem früheren EZB-Präsidenten in Brüssel der höchste Respekt entgegengebracht wird.

Dass die Bundestagswahl im vergangenen Jahr in den EU-Institutionen ebenfalls im Detail verfolgt wurde, versteht sich von selbst. Eine große Alarmstimmung gab es in Brüssel aber nicht – dazu hatten alle drei Kanzlerkandidaten eine zu starke proeuropäische Ausrichtung.

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