Mindestlohn

Millionen und der Staat profitieren

Der Mindestlohn soll mit der neuen Ampel-Regierung auf 12 Euro steigen. Studien zeigen: Das lohnt sich – nicht nur für Geringverdiener, sondern auch für die Wirtschaft und damit für den Staat.

Millionen und der Staat profitieren

Von Anna Steiner, Frankfurt

Es war der Wahlkampfschlager der Bundestagswahl: die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Kritiker befürchteten sogleich negative Beschäftigungseffekte, also mehr Arbeitslose. Aktuelle Studien und erste Berechnungen der Bundesbank und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigen jedoch eindrücklich, dass der Mindestlohn finanzierbar ist und sich lohnt – und zwar nicht nur für Geringverdiener, sondern auch für die Staatskasse. Auch Produktivität und Wirtschaftswachstum werden durch die Erhöhung gefördert.

Veraltete Gegenargumente

Die Debatte über den Mindestlohn bzw. dessen Erhöhung wird in Deutschland schon immer ambivalent geführt. Auch in diesem Wahlkampf mehrten sich Stimmen, die negative Auswirkungen auf die Beschäftigung und hohe Kosten für Staat und Unternehmen befürchteten. Der neoklassischen Lehrbuchtheorie zufolge sorgt ein gesetzlich – und nicht durch den Markt – geregelter Mindestlohn immer für mehr Arbeitslosigkeit, da er gerade im Niedriglohnsektor viele Beschäftigungsverhältnisse für die Arbeitgeber unprofitabel macht und zu Entlassungen führt. Doch diese Sorge bewahrheitete sich schon bei der Einführung des Mindestlohns in Deutschland vor sechs Jahren nicht.

Ab 13 Euro wird es riskant

Betrachtungen, die Entlassungen aufgrund zu hoher Lohnkosten für Arbeitgeber befürchten, lassen außer Acht, dass die Nachbesetzung von Stellen Zeit und Geld kostet – und Arbeitgeber daher eher bereit sind, höhere Löhne zu bezahlen, als aufwendig nach Mitarbeitern zu suchen – in der überwiegenden Mehrheit der Fälle. Die moderne Arbeitsmarkttheorie geht hingegen davon aus, dass sich ein Mindestlohn gleich in mehrfacher Hinsicht positiv auswirkt: Er stärkt die Motivation der Erwerbstätigen und den Suchanreiz der Arbeitssuchenden; er verlagert die Beschäftigung von weniger produktiven Jobs hin zu Jobs mit höherer Produktivität und stärkt somit nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern mittelbar auch die öffentlichen Finanzen.

Dem Statistischen Bundesamt (Destatis) zufolge arbeiten in Deutschland circa 21% der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor. Sie erhalten also einen Lohn, der weniger als zwei Drittel des mittleren Verdienstes in Deutschland beträgt – weniger als 12,27 Euro. Die Hans-Böckler-Stiftung spricht in ihrer Berechnung von acht bis zehn Millionen abhängig Beschäftigten, die von einer Erhöhung von derzeit 9,60 Euro auf 12 Euro profitieren würden.

Zudem führt nach Angaben der Stiftung schon eine Erhöhung des Mindestlohns auf 11 Euro zu einer leichten Steigerung der Beschäftigung. Eine weitere Erhöhung auf die im Koalitionsvertrag festgeschriebenen 12 Euro hat demnach keine Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Denn einem dann erheblichen Rückgang der Anzahl der geringfügig Beschäftigten stünde gemäß der Modellrechnung ein ebenso großer Anstieg der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Teil- oder Vollzeit gegenüber. Der positive Effekt des Mindestlohns aufgrund der gesteigerten Suchanreize und die negativen Effekte aufgrund der rückläufigen Arbeitsnachfrage im Niedriglohnbereich hielten sich hier in etwa die Waage. Ab einem Stundenlohn von 13 Euro allerdings würde der Arbeitsmarkt beginnen „zu kippen“, so die Wissenschaftler.

Die Steigerung des Mindestlohns auf 12 Euro würde zudem zu einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,5%, bzw. 50 Mrd. Euro pro Jahr führen. Dafür verantwortlich sind den Ökonomen zufolge zwei Effekte: Zum einen steigt die durchschnittliche Produktivität je Arbeitsstunde, zum anderen nimmt die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden zu, weil die Anzahl der geringfügig Beschäftigten zurückgeht und die Anzahl von Teil- und Vollzeitbeschäftigten zunimmt. „Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro setzt also erhebliche Wachstumsimpulse“, so die Autoren der Studie.

Schließlich würden auch die öffentlichen Finanzen profitieren, denn die Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben legten in der Folge zu. In einer groben Abschätzung der fiskalischen Effekte kommen die Wissenschaftler der Hans-Böckler-Stiftung zu dem Schluss, dass bei einer durchschnittlichen Steuer- und Abgabenquote von 40% eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts um 50 Mrd. Euro staatliche Mehreinnahmen von jährlich 20 Mrd. Euro generieren würde.

Auch die Bundesbank hält eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro für stemmbar. Zum einen sei der direkt betroffene Personenkreis zwar deutlich größer als bei der Einführung 2015, heißt es im jüngsten Monatsbericht der Notenbank, doch werde die durchschnittliche prozentuale Erhöhung der Stundenlöhne voraussichtlich deutlich niedriger ausfallen.

In ihren Projektionen (siehe Grafik) für die Lohnentwicklung in den kommenden Jahren haben die Ökonomen der Bundesbank die im Juli 2022 anstehende Erhöhung auf 10,45 Euro bereits berücksichtigt. Nach einem mauen Pandemie-Jahr 2020 mit zurückhaltenden Tarif-Abschlüssen in vielen Branchen und einer gedämpften wirtschaftlichen Erholung 2021 werden die Löhne ab 2022 wohl spürbar steigen. Die Erklärung hierfür liegt in der sinkenden Kurzarbeit und den dadurch wieder steigenden Arbeitszeiten. Einen Anstieg der Durchschnittslöhne von bis zu 4% halten die Ökonomen für realistisch. Das wiederum könnte Auswirkungen auf die ohnehin hohe Inflation haben (siehe Text auf dieser Seite).

Aus moderner arbeitsmarkttheoretischer Sicht gibt es keine Gründe, bei der Erhöhung des Mindestlohns zu zögern. Eine Anhebung auf 12 Euro schon im kommenden Jahr wäre allerdings mit Blick auf die ohnehin steigenden Verbraucherpreise riskant.

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