Weltwirtschaft

Schwellenländer im Zwiespalt

Viele aufstrebende Volkswirtschaften stehen besser da als vor früheren Spannungsphasen. Trotzdem könnte der US-Boom vom Segen zum Fluch umschlagen.

Schwellenländer im Zwiespalt

Von Stefan Reccius, Frankfurt

Wird die schwungvolle Erholung der Weltwirtschaft unter maßgeblichem Anschub aus den Vereinigten Staaten für Schwellenländer vom Segen zum Fluch umschlagen – und wann wird dieser Kipppunkt erreicht sein? Diese alles überwölbende Frage treibt Ökonomen und Analysten mit einem Faible für die aufstrebenden Volkswirtschaften um. Hinter der Befürchtung steckt ein komplexes Zusammenspiel aus ökonomischen und finanzmarktspezifischen Wechselwirkungen, das sich – stark vereinfacht – auf die Formel verdichten lässt: Je stärker die USA in Sachen Konjunktur und Impfungen voranpreschen, desto größer das Risiko eines plötzlichen Sturms für Schwellenländer an den Kapitalmärkten.

Hintergrund ist die Aussicht, dass der konjunkturelle Boom die US-Notenbank Fed früher als angenommen zum Handeln zwingen könnte, falls der Aufschwung mit einem anhaltenden Inflationsschub einhergeht. Bislang kommt den Schwellenländern zugute, dass die Fed die Märkte behutsam auf eine Straffung der Geldpolitik vorbereitet. 2013 genügten schon Andeutungen der Fed-Spitze über ein Zurückfahren der Anleihekäufe mit der Folge steigender Zinsen und Renditen in sicheren Häfen, um eine Flucht von Anlegern aus Schwellenländer-Werten auszulösen. Anzeichen für einen nahenden Ausverkauf gibt es jetzt bislang kaum: Der internationale Bankenverband IIF registriert einen steten Kapitalstrom Richtung Schwellenländer. Im Juni erreichten die Nettozuflüsse circa 28 Mrd. Dollar, überwiegend in Staatsanleihen (siehe Grafik). Auffallend viele Regierungen nutzen das positive Umfeld, um per Neuemissionen rechtzeitig zu günstigen Konditionen Geld aufzunehmen.

Sonderfall Türkei

Die Zentralbank der Zentralbanken BIZ sieht die Schwellenländer durch den kräftigen Aufschwung in den führenden Volkswirtschaften samt China in einem Zwiespalt. Exporteure von Gütern und Rohstoffen frohlockten. Sie holen durch ihre Erlöse Fremdwährungen ins Land, was die in der Vergangenheit häufig chronisch defizitären Leistungsbilanzen entlastet. Das begünstigt laut IIF besonders Brasilien und Südafrika. Andererseits schlügen laut BIZ angespanntere Finanzierungsbedingungen infolge höherer US-Zinsen bereits merklich auf die Renditen von Staatsanleihen durch. Das erschwert den vielerorts durch die Krise strapazierten Schuldendienst.

Dennoch sehen Ökonomen Anlass für ein gewisses Maß an Zuversicht. Die makroökonomische Lage vieler Schwellenländer hat sich im Vergleich zu früheren Spannungsphasen gebessert. Die Experten der BIZ sehen im Durchschnitt höhere Fremdwährungsreserven und vorteilhaftere Leistungsbilanzen als in früheren Phasen steigender US-Zinsen. Nicht von ungefähr hat der Internationale Währungsfonds (IWF) der türkischen Zentralbank ins Pflichtenheft geschrieben, die Währungsreserven aufzustocken. Der Kampf gegen Inflation und Lira-Schwäche hat die Reserven aufgezehrt, während Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gegen den Rat vieler Experten auf Zinssenkungen dringt. Auch in Sachen Leistungsbilanz bleibt die Türkei eine von wenigen negativen Ausnahmen: Laut IIF-Analysen dürften die Türkei und Kolumbien nach wie vor substanziell mehr Waren und Rohstoffe ein- als ausführen, was Länder tendenziell anfälliger macht.

Die BIZ betont auch institutionelle Fortschritte und die Rolle der Notenbanken. „Verbesserte geldpolitische Rahmenbedingungen haben für besser verankerte Inflationserwartungen gesorgt, die das Durchschlagen des Wechselkurses auf die Verbraucherpreise abschwächen“, heißt es im gerade erschienenen Jahreswirtschaftsbericht. Wahrscheinlichkeit und Umfang von Kapitalabflüssen sei­en geringer. Andererseits hätten hö­here Defizite und Schulden Schwellenländer „verwundbarer“ ge­macht.

Währungshüter mahnen

Umso mehr geraten die Zentralbanken in den Fokus. Mehr als ein Dutzend haben in der Krise erstmals zu Anleihekäufen gegriffen. Dieser Bedeutungszuwachs veranlasst einige Währungshüter, vor einer Überforderung zu warnen. Bei einer Konferenz der Ratingagentur S&P appellierten Mexikos Zentralbankchef Alejandro Díaz de León und sein Kollege Lesetja Kganyago aus Südafrika einhellig, die Geldpolitik gerade in Schwellenländern nicht mit Erwartungen zu überfrachten oder gar als Allheilmittel zu betrachten, sondern deren Grenzen zu respektieren.

Die Anleihekäufe der südafrikanischen Zentralbank im Zuge der Coronakrise seien allein auf die Stabilisierung der Finanzmärkte und die Bereitstellung von Notfallliquidität beschränkt gewesen, führte Kganyago aus. Man habe nicht beabsichtigt, Wirtschaft und Inflation anzukurbeln oder Renditen zu drücken, betonte Kganyago. Der Mexikaner Díaz de León war darauf bedacht, die Rolle der Zentralbank als Käufer der letzten Instanz auf den lokalen Bondmärkten herunterzuspielen. Die Notfallmaßnahmen seien keine Wunderwaffe. Die Banxico hat sich jüngst in die wachsende Phalanx jener Zentralbanken eingereiht, die angesichts zunehmenden Preisdrucks frühzeitig mit Zinserhöhungen begonnen haben. Ökonomen begrüßen solche Schritte auch als Akt der Prävention – bevor die Fed Ernst macht.