Fachkräftemangel

Zuwanderung ist nur Teil der Lösung

Der Personalmangel macht sich inzwischen in nahezu allen Branchen bemerkbar. Die Rufe nach mehr Zuwanderung werden lauter. Die Politik will entsprechende Gesetze im Herbst reformieren. Doch das kann nur ein Teil der Lösung sein.

Zuwanderung ist nur Teil der Lösung

Von Anna Steiner, Frankfurt

Der Fachkräftemangel in Deutschland hat sich längst zu einem Arbeitskräftemangel ausgewachsen. Es fehlen nicht mehr nur IT-Spezialisten oder qualifizierte Erzieher. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt: Große Personalengpässe gibt es gerade in der Gastronomie und im Tourismus. Insgesamt liegt die Zahl der offenen Stellen auf einem neuen Allzeithoch. Und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) veröffentlichte eine Umfrage, wonach sich die Suche nach geeigneten Auszubildenden für die Unternehmen so schwierig gestaltet wie nie zuvor. Eine Lösung, die derzeit gerne angeführt wird, ist Zuwanderung. Die Politik muss aber auch das vorhandene Potenzial endlich heben.

Heftiger Rückgang

Die Stellenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) meldete für das zweite Quartal einen neuen Rekord mit 1,93 Millionen unbesetzten Stellen. Auch das Ifo-Institut meldet ein Allzeithoch: Im Juli klagten 49,7% der befragten Betriebe über fehlende Facharbeiter. Das Problem wird sich in den kommenden Jahren verschärfen, denn dann gehen die geburtenstarken „Babyboomer“-Jahrgänge in den Ruhestand.

In ihrer ersten Pressekonferenz als neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA) sagte Andrea Nahles am Mittwoch, es sei nötig, die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland zu erleichtern. Hier habe Deutschland noch zu hohe Hürden – etwa, wenn der Besuch von Deutschkursen im Herkunftsland gefordert werde. Auch die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen sei unnötig kompliziert. Ihr Vorgänger im Amt, Detlef Scheele, rechnete vor, dass Deutschland 400000 Zuwanderer pro Jahr brauche, um die Personallücken zu stopfen.

Die Corona-Pandemie hat den Personalmangel auf zweierlei Weise verschärft. Zum einen suchten viele Beschäftigte in von Lockdowns betroffenen Branchen ihr Heil in anderen Berufen – und blieben dort. Einer aktuellen IW-Studie zufolge sank in keinem anderen Berufsbereich die Zahl der qualifizierten Beschäftigten so stark wie in Tourismus-, Hotel- und Gaststättenberufen. Die IW-Forscher ermittelten einen Rückgang von Juni 2020 bis Juni 2021 um 10,3%.

Zum anderen sorgten Reisebeschränkungen weltweit dafür, dass die Zuwanderung nach Deutschland dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge zurückging. Laut Berechnungen des IW nimmt das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland in den nächsten Jahren selbst bei „mittlerer Zuwanderung“ stark ab (siehe Grafik). Dabei rechnet das Institut mit einem Rückgang des Wanderungssaldos von 386000 im Jahr 2018 auf 206000 im Jahr 2026 und einer anschließend etwa gleichbleibenden Nettozuwanderung.

Auch am Ausbildungsmarkt hat sich die Lage durch die Pandemie verschärft. „Nie war es schwieriger für die Betriebe, Azubis zu finden“, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks am Donnerstag in Berlin. Einer aktuellen Umfrage zufolge konnten mehr als 40% der Betriebe im vergangenen Jahr nicht alle Lehrstellen besetzen. „Der Bedarf an beruflich Qualifizierten ist inzwischen höher als bei den Akademikern“, sagte der DIHK-Experte.

Gesetzreform im Herbst

Die FDP preschte dieser Tage in Person ihres Parteivize Johannes Vogel voran und forderte ein Punktesystem zur Einwanderung – ähnlich dem kanadischen. Ausländer sollen im Gegensatz zum bisherigen deutschen Migrationsrecht auch ohne Aussicht auf eine konkrete Arbeitsstelle die Möglichkeit zur Einwanderung bekommen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) haben eine Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes für den Herbst angekündigt.

So soll der Arbeitsmarkt für Fachkräfte geöffnet werden, die einen Arbeitsvertrag, aber noch keinen anerkannten Abschluss haben. Anders als bisher sollen für die Einreise das Zeugnis eines Abschlusses aus ihrem Heimatland und Berufserfahrung ausreichen. Dies solle ein Schritt hin zur „Chancenkarte“ sein, die SPD, Grüne und FDP einführen wollen.

Es gibt allerdings auch Kritik an der Forderung nach mehr Zuwanderung. Während die einen fordern, statt geplanter Zuwanderung die Lohnentwicklung zu stärken und Ausbildungsberufe attraktiver zu machen, mahnen die anderen eine bessere Kinderbetreuung an. Denn in der riesigen Teilzeit-Armee unter den deutschen Erwerbstätigen gibt es nach Angaben des Statistikamts Eurostat etwa 9,5%, die eigentlich gerne mehr arbeiten würden. Zudem sollen die Unternehmen mehr Weiterbildung ermöglichen. Hier liegt ein enormes Potenzial, zumal die Zuwanderung allein die Arbeitskräftelücke nicht wird schließen können.

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