Vorkasse

Der nächste Albtraum

Das Flugchaos in diesem Sommer haben Verbraucherschützer zum Anlass genommen, erneut die Abschaffung der Vorkasse bei Airlines zu fordern.

Der nächste Albtraum

Nachdem der Stein einmal ins Rollen gebracht wurde, ist er nicht leicht zu stoppen. Das Flugchaos in diesem Sommer haben Verbraucherschützer zum Anlass genommen, erneut die Abschaffung der Vorkasse bei Airlines zu fordern. Die bestehende Praxis, dass Flüge vom Kunden zum Zeitpunkt der Buchung, der im Durchschnitt 72 Tage vor Abflug liegt, vollständig bezahlt werden müssen, wurde umso mehr zum Ärgernis, als die bezahlte Leistung am Ende wegen der zahlreichen Flugstreichungen oft gar nicht er­bracht wurde. Das hat schlechte Erinnerungen geweckt: an die Pleite von Air Berlin, bei der Tausende ohne Schadenersatz auf ihren Tickets sitzen blieben; an den Chaos-Sommer von 2018 und nicht zuletzt an den Zusammenbruch des Flugverkehrs während der Pandemie. Als im Frühjahr 2020 der Flugverkehr zum Stillstand gekommen war, hatte die Lufthansa die automatische Ticketerstattung gestoppt, um nicht unmittelbar in die Pleite zu schlittern.

All dies führt der Öffentlichkeit aus Sicht der Vorkasse-Gegner vor Augen, dass die derzeitige Rechtslage, die noch 2016 durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs gestützt wurde, nicht länger haltbar ist. Gefordert wird nicht nur grundsätzlich eine Bezahlung bei Check-in, sondern ebenso eine Insolvenzabsicherung der Kundengelder nach dem Vorbild der Pauschalreisebranche.

Im Bundesrat diskutiert

Der Vorstoß hat auch die Politik auf den Plan gerufen. Auf Betreiben der niedersächsischen Landesregierung hat sich nun der Bundesrat des Themas angenommen. Über den Entschließungsantrag von Niedersachsen werden die Fachausschüsse der Länderkammer beraten. Danach stimmt das Plenum darüber ab, ob der Bundesrat die Entschließung fassen und die Bundesregierung zum Handeln auffordern soll. Aber auch der Bundestag selbst hat die Vorkasse schon im Visier, wie die Verbraucherschützer mit Genugtuung feststellen. Das Bundesumweltministerium un­terstützt den Vorstoß zu einer gesetzlichen Neuregelung, das Verkehrsministerium hat sich unterdessen skeptisch gezeigt, vor allem mit Verweis auf die internationalen Geschäftsmodelle im Luftverkehr, die keine deutsche Insellösung zuließen. Die Initiatoren einer Neuregelung sehen da­gegen die Chance, zumindest auf europäischer Ebene eine Reform durchzusetzen. Die „Luftverkehrsdiensteverordnung“ stehe ohnehin „zur Reformierung an“, betont Marion Jungbluth, Team-Leiterin Mo­bilität und Reisen bei der Verbraucherzentrale. Damit wäre hierzulande ein erheblicher Teil der Flugreisenachfrage erfasst.

Die Airlines selbst laufen gegen eine Abschaffung der Vorkasse Sturm. Sie betonen, die gegenwärtige Regelung gewährleiste niedrigere Preise für die Reisenden und Planungssicherheit für die Fluggesellschaften. Bei der Erstattungspraxis seien Schwächen, die durch temporäre Systemüberlastungen vor allem während der Coronakrise auftraten, inzwischen behoben. Allerdings ist es nicht nur die verringerte Planungssicherheit und Auslastung, die den Unternehmen zu schaffen macht, sondern nicht zuletzt der drastisch ansteigende Liquiditätsbedarf, den eine Abschaffung der Vorkasse auslösen würde.

Einer Studie der Universität Luzern zufolge, die die Verbraucherschützer selbst in Auftrag gegeben haben, leisten Fluggäste in Deutschland in einem „normalen Jahr“ Vorauszahlungen von rund 3,5 Mrd. Euro. Die durchschnittliche Vorauszahlungsfrist beträgt 72 Tage. Wenn die Vorauszahlungen komplett wegfielen, entstünde den Airlines eine erhebliche Liquiditätslücke, die sich derzeit nur schwer ad hoc schließen ließe. Denn die Bilanzen sind trotz der stark angewachsenen Flugnachfrage noch deutlich von der Pandemie strapaziert. Die Verschuldungskapazität ist vielfach ausgereizt, eine erneute umfangreiche Eigenkapitalaufnahme scheint auch bei allen Gesellschaften mehr oder minder ausgeschlossen, nachdem die Aktionäre in der Pandemie bereits milliardenschwere Kapitalspritzen setzen mussten.

Die Lufthansa saß Ende Juni auf einem satten Liquiditätspolster von 11,4 Mrd. Euro. Damit wäre eine kurzfristige Umstellung bzw. Aufgabe des Vorkasseprinzips prinzipiell verkraftbar. Das Unternehmen, das rund 60 % seiner Erlöse international erwirtschaftet, sieht jedoch Probleme, falls eine deutsche Insellösung käme. Überdies wären bestehende Code-Share-Programme, also Ko­operationsbuchungen mit anderen Airlines, wie sie insbesondere innerhalb der Star Alliance und auch in den Konkurrenz-Teams Oneworld und Skyteam gang und gäbe sind, technisch kaum noch umsetzbar, heißt es.

Zeitnah schwierig

Eine zeitnahe Abschaffung der Vorkasse dürfte daher auf wirtschaftliche und technische Hürden stoßen. Was die finanzielle Belastung an­geht, so gehen die Experten davon aus, dass die Airlines mittelfristig die zusätzlichen Kapitalkosten, die durch die Finanzierung der Liquiditätslücke entstehen, schultern und dann auch an die Kunden weitergeben können. Denn es wird angenommen, dass die Effekte nicht allzu groß sind. Bei einer vollständigen Ab­schaffung der Vorkasse werden die zusätzlichen Kapitalkosten auf 3,3 % des deutschen Flugreisemarktvolumens geschätzt. Bei Teilvorkasse, zum Beispiel 50 % Anzahlung bei Buchung, wäre der Effekt entsprechend geringer.

In der Reise- und Touristikbranche ist eine Vielzahl abgestufter Bezahlmodelle üblich. Im touristischen Pauschalreisegeschäft sind Anzahlungen von 20 bis 30 % des Gesamtreisepreises bei Buchung die Regel, die Restzahlungen erfolgen meist vier bis sechs Wochen vor Reiseantritt. Auch diese Branche musste ihr Geschäftsmodell an einer neuen Absicherungspraxis ausrichten, nachdem sich die bestehende Lösung beim Zusammenbruch von Thomas Cook als nicht tragfähig erwiesen hatte. Individualreisende finden auf den einschlägigen Hotelbuchungsplattformen wie Booking.com, Expedia und dergleichen bei vielen Unterkünften diversifizierte Angebote, also Buchungsmöglichkeiten mit und ohne Vorauszahlung.

Im Geschäftskundensegment sind längerfristige Vorauszahlungen oh­nehin selten. Hier dominiert nicht nur die Bezahlung bei Check-in oder Check-out im Hotel, sondern es be­steht vielfach die Möglichkeit einer Komplettstornierung bis unmittelbar vor der geplanten Anreise. Bei DER Corporate Solutions, die Ge­schäftskunden die Buchung über die Plattform DERHotel anbietet, werden den Angaben zufolge 98 % der gebuchten Raten ohne Vorkasse gebucht. „Die Nachfrage nach Raten mit Vorkasse (preisgünstiger, aber häufig nicht stornierbar) ist im Geschäftsreisebereich gering und tendenziell weiter abnehmend, da Firmenkunden in aller Regel Wert auf umbuchbare Raten legen“, heißt es in einer Stellungnahme des Unternehmens der Rewe-Gruppe auf An­frage.

Auch die Airlines kennen die Bedürfnisse ihrer Geschäftskunden und sind bemüht, diesen Rechnung zu tragen. Dies ist für große Netz-Carrier wie die Deutsche Lufthansa noch wichtiger als für Billigflieger wie Ryanair oder Easyjet, bei denen die touristischen Buchungen überwiegen. Für die Lufthansa sind Ge­schäftsreisende dagegen eine zentrale Cash-Cow. Die beiden britischen Gesellschaften haben durchschnittlich eine Vorauszahlung von 95,2 Tagen (Easyjet) und 97,2 Tagen (Ryanair). Die Lufthansa kommt da­gegen auf 67,8 Tage. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die Kranichlinie für ihre Geschäftskunden einen „Pay as you go“-Tarif anbietet, also einen Tarif, bei dem Buchung und Bezahlung zeitlich auseinanderklaffen, ein wenn auch teures Privileg, das Privatkunden so nicht haben.

Branchenvertreter weisen daraufhin, dass eine „massenhafte“ Bezahlung bei Check-in erhebliche organisatorische Probleme auslösen könnte. Beim Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) verweist man auf die Überlastung des Systems im diesjährigen Sommer, als sich Check-in- und Gepäckabgabe ohnehin als Nadelöhr erwiesen hatten. Eine Zahlungsabwicklung an dieser Stelle würde die Abwicklungsdauer auch bei gegebener Zahlungsinfrastruktur nochmals erhöhen, mit allen Folgen der Verzögerung bei Sicherheitschecks und Abflug, heißt es. Als Kompromiss kommt dennoch eine Stufenlösung nach dem Vorbild der Reisebranche in Betracht, wie Verbraucherschützer meinen. Demnach müssten Airlines künftig allen Kunden Tarife ohne Vorauszahlung anbieten, jedoch könnten günstigere Tarife mit Vorauszahlung parallel Bestand haben.

Von Heidi Rohde, Frankfurt

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