Leitartikel

Die Nagel­probe

Die geplante ARM-Übernahme durch Nvidia bietet die Chance, im Kartellrecht für die Digitalwirtschaft einen neuen Instrumentenkasten zu entwickeln. Es ist an der Zeit.

Die Nagel­probe

Das rasante Innovationstempo der Digitalwirtschaft sowie der durch schnelle globale Skalierung der internetbasierten Geschäftsmodelle begünstigte Trend zu Monopolen und Marktmacht stellen die Wettbewerbsbehörden vor zunehmend schwierige Herausforderungen. Ein für die digitale Welt nahezu untauglicher Instrumentenkasten, der die kartellrechtliche Relevanz von Akquisitionen an Umsatzschwellen und abgrenzbaren Anteilen in spezifischen Märkten misst, hat dazu geführt, dass im Technologiesektor eine Reihe gefährlicher Riesen entstanden ist, deren Geschäftsgebaren als durchaus bedrohlich für die freie Gesellschaft wahrgenommen wird.

Die fragwürdige Rolle sozialer Netzwerke wie Twitter oder Facebook im Umgang mit der Pandemie ist dafür nur ein erschreckendes Beispiel. In den ungefilterten Inhalten auf beiden Plattformen verbreiten sich Desinformationen und Verschwörungstheorien in atemberaubender Ge­schwindigkeit, ohne dass die staatlichen Behörden darauf Einfluss nehmen können. Die praktische Kommunikationshoheit der Unternehmen ist dabei im Fall von Facebook auch auf eine gelungene Akquisitionsstrategie zurückzuführen, deren Folgen die Kartellwächter nicht erkannt haben. Der von Mark Zuckerberg gegründete Konzern verleibte sich in kurzem Abstand die damaligen Newcomer der Branche, Whatsapp und Ins­tagram, ein, bevor deren innovatives Geschäftsmodell dem weltgrößten sozialen Netzwerk gefährlich werden konnte. Gefährlich wurde es dagegen für den Wettbewerb. Bei der Übernahme von Kustomer, der nächste Milliardenzukauf eines Start-ups, den Facebook schon vor Jahresfrist angekündigt hat, regen sich nun kritische Stimmen, auch in Europa.

Die erschreckenden Ergebnisse ihrer Untätigkeit, die sich nur noch äußerst schwer korrigieren lassen, haben die Behörden so weit wachgerüttelt, dass nun bei M&A im Technologiesektor schneller die Alarmglocken schrillen. Dies gilt für einen weiteren Tech-Deal, bei dem ein neuer Riese hofft, einen Coup zu landen. Nvidia, die den Chip-Designer ARM schlucken will, gehört zu den Pandemiegewinnern. Der Aktienkurs des US-Technologiekonzerns ist allein in diesem Jahr um 123% gestiegen. Die Marktkapitalisierung liegt inzwischen bei rund 750 Mrd. Dollar, Anfang März 2020 bei Ausbruch der Coronakrise waren es erst 77 Mrd. Dollar. Der Grafikkartenspezialist profitiert vom rasant wachsenden Gaming-Markt, wo die Pandemie die Nachfrage treibt. Jedoch hat das Unternehmen sein Geschäft auf Basis hochleistungsfähiger Prozessoren erfolgreich diversifiziert und expandiert schnell im Bereich Datencenter und vor allem als Partner der Automobilindustrie bei der Entwicklung von Chips und KI-Technologie für das autonome Fahren. Als solcher hat Nvidia als Zulieferer einer Branche, die erst allmählich die überragende Rolle von Halbleitern im (elektrischen und autonom gesteuerten) Fahrzeug der Zukunft erfasst, dramatisch an Bedeutung gewonnen.

Aber auch jenseits der Automobilindustrie haben Produktionsengpässe und gerissene Lieferketten die Aufmerksamkeit auf Halbleiter als Kernkomponente in zahlreichen Industrien gelenkt. Dabei ist auch die globale Unwucht von Entwicklungs- und Fertigungsstätten ins Blickfeld gerückt. Während bei Letzteren Europa und die USA bereits zur Aufholjagd angesetzt haben, sind die Epizentren der Entwicklung in Ost und West ein sensibles Thema. ARM ist ein solches, Nvidia ein anderes. Chip-Baupläne von ARM dominieren die globale Mobilfunkindustrie, wobei das britische Unternehmen beispielhaft enge geschäftliche Beziehungen sowohl zu Qualcomm als auch zu Huawei (inklusive gemeinsamer Forschung) unterhält. Diese geopolitische Unabhängigkeit des Chip-Designers, dessen Geschäft selbst ein Monopol ist, wäre bei einer Übernahme durch Nvidia trotz aller Lippenbekenntnisse in der Glaubwürdigkeit beschädigt. Auch dies ist ein gravierendes Problem, ganz abgesehen von der gewaltigen Marktmacht, die Nvidia in der gesamten von Hochleistungschips abhängigen Digitalwirtschaft erlangen würde.

Die ARM-Übernahme wird daher zur Nagelprobe für eine neue Wettbewerbspolitik, die sich nicht allein von Bilanzkennziffern und Marktüberschneidungen leiten lässt, sondern auch zentrale strategische Motive kritisch hinterfragt. Die Bereitschaft von Nvidia, einem Unternehmen mit rund 1,3 Mrd. Dollar Umsatz einen Wert von 50 Mrd. Dollar beizumessen, muss ein Weckruf sein, denn der Kaufpreis erinnert stark an die „strategischen Preise“, die Facebook zu zahlen pflegt.

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