Versorgungssicherheit

Energiewende

Seit der Invasion Russlands in der Ukraine gibt es in der deutschen Energiepolitik keine Denkverbote mehr. Erforderlicher Pragmatismus sollte jedoch nicht als Trendwende missverstanden werden.

Energiewende

Plötzlich ist die Energiewende da – wenn auch anders als gedacht. Denn der Krieg, der seit über einer Woche in unserer Nachbarschaft tobt, hat mit so mancher Gewissheit aufgeräumt. Die Invasion Russlands in der Ukraine hat der EU und insbesondere Deutschland drastisch vor Augen geführt, wie groß die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen aus Russland ist. Dass Deutschland als rohstoffarmes Land auf Energieimporte angewiesen ist, ist hinlänglich bekannt und lässt sich auch langfristig nicht ändern. Dass 2021 mehr als die Hälfte des hierzulande bezogenen Erdgases, ein Drittel der Rohölimporte und mehr als 50 % der importierten Kohle aus Russland kamen, verschlägt einem dann aber doch den Atem. Die Statistiken, die in Friedenszeiten bestenfalls zur Kenntnis genommen werden, veranschaulichen eindrucksvoll, wovon unser aller Wohlstand als Industrie- und Exportnation am Ende ab­hängt.

Zu konstatieren ist: Deutschland hat es in der Vergangenheit versäumt, seine Rohstoffbezugsquellen zu diversifizieren. Doch die Politik reagiert. Von jetzt auf gleich stellt die Bundesregierung 1,5 Mrd. Euro zum Kauf von Flüssiggas zur Verfügung, zugleich wird der Bau von zwei Terminals zur Anlandung von LNG (Liquefied Natural Gas) mit einem Fingerschnippen auf den Weg gebracht. Am Wochenende fiel der Startschuss für ein erstes Terminal in Brunsbüttel, an dem sich die KfW mit 50 % beteiligen wird. Uniper holt Pläne aus der Schublade, in der diese Ende 2020 mangels Interesse an den Importkapazitäten verschwunden waren.

In der deutschen Energiepolitik gibt es keine Denkverbote mehr. Das ist zweifelsohne richtig. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) denkt laut über die Verlängerung der Laufzeiten für die drei noch verbliebenen Atomkraftwerke nach. Das letzte sollte ursprünglich Ende 2022 vom Netz gehen. Zeitgleich wird geprüft, ob stillgelegte oder in der Sicherheitsbereitschaft befindliche Kohlemeiler wieder ans Netz gebracht oder geplante Stilllegungen verschoben werden.

Dass der Ausstieg aus der Atomenergie noch einmal rückgängig gemacht wird, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Dem stehen nicht nur technische und genehmigungsrechtliche Hürden im Weg. Vielmehr veranschaulicht der Angriff auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja durch die russischen Besatzer die Gefahr, die ganz generell mit Kernkraftwerken einhergeht. Atomkraftwerke stellen in jeder kriegerischen Auseinandersetzung strategische Angriffsziele dar und werden zum Faustpfand. Ganz abgesehen davon, dass für den Weiterbetrieb der deutschen Atommeiler zeitaufwendige Sicherheitsprüfungen erforderlich wären, die aller Dringlichkeit zum Trotz nicht einfach über Bord geworfen werden sollten. Kurzfristig können die Atommeiler also gar keinen Beitrag zur Versorgungs­sicherheit leisten. Genau darum aber geht es jetzt.

Anders sieht es dagegen mit Blick auf die Kohleverstromung aus. So lässt Steag drei Kraftwerksblöcke, die ursprünglich in diesem Sommer stillgelegt werden sollten, bis (mindestens) Oktober am Netz und verschiebt die Umrüstung des Steinkohlekraftwerksblocks Herne 4 auf Erdgasbefeuerung bis ins Frühjahr 2023. RWE bereitet sich auf etwaige Anfragen aus Berlin vor, und auch der Chemiekonzern Evonik prüft die Wiederinbetriebnahme seiner Kohlekraftwerksblöcke im Chemiepark Marl.

Der Pragmatismus, den Politik und Unternehmen an den Tag legen, ist begrüßenswert. Ihn als Trendwende in der Diskussion um den Kohleausstieg misszuverstehen, geht allerdings an der Realität vorbei. Da mögen sich die Ministerpräsidenten aus den ostdeutschen Bundesländern mit Braunkohlerevieren noch so sehr ins Zeug legen, das Umdenken in der Energiepolitik betrifft nur den kurz- bis mittelfristigen Zeithorizont. Natürlich vermag heute niemand zu sagen, ob der Kohleausstieg, der gemäß Koalitionsvertrag „idealerweise“ bis 2030 vollzogen werden soll, angesichts der Lücken in der Energieversorgung nicht um ein, zwei Jahre nach hinten verschoben werden muss. Am langfristigen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern ändert das aber nichts.

All jenen, die jetzt versuchen, einen Zielkonflikt zwischen Versorgungssicherheit auf der einen und Klimaschutz auf der anderen Seite heraufzubeschwören, sei gesagt: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Denn der Krieg ist zugleich als Weckruf zu verstehen, mit aller Macht den Ausbau erneuerbarer Energien und alternativer Rohstoffe voranzutreiben, um sich dauerhaft aus der Abhängigkeit von klimaschädlichen fossilen Energieträgern zu lösen.  

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